Die alternden Jungs

Die ersten Falten umranden die Augenlider. Zwar weiterhin grossgewachsen, zwischen dreissig und vierzig Jahren jung, ohne Bindung und Verpflichtung, stattdessen lukrativer Beruf in einer Grossstadt. Strebsamst, nicht altern zu wollen, vagabundieren die Jungs in den Bars und Clubs einer Grossstadt.

Der Donnerstag ist der Jungsabend. Die Jungs verabreden sich für gewöhnlich zur selben Zeit am selben Ort. Frauen sind erwünscht insofern, als sie keine Freundinnen sind. Denn bekanntlich bremsen Freundinnen ihre Jungs. Sie haben immer eine domestizierende Wirkung, auch wenn sie das abstreiten und lässig-locker sich gerieren.

Die alternden Jungs diskutieren über ihre Liebschaften, spontanen Bekanntschaften, über ihre beruflichen und familiären Herausforderungen. Sie plaudern über den Weltgeist, die Weltpolitik. Sie teilen neueste populärwissenschaftliche Erkenntnisse ihrer persönlichen Neigung. Manchmal vertiefen sie sich in Geschichte, bevorzugt Zweiter Weltkrieg.

Die Gespräche können entweder persönlich-intim enden oder allgemein-distanziert bleiben. Die Besetzung der Runde bestimmt die Gesprächskultur. Sobald der eine Junge aufdreht, also den gemeinsamen Alkohol-Pegel überschreitet, kann eine Debatte boulevardisiert werden. Dann überwinden Busen, Blut und Büsis die übrigen Inhalte.

Der Abend beschränkt sich nicht auf die Bar. Die Bar ist bloss das persönliche und Beziehung festigende Ritual. Der Abend wird in einem Club vollendet. Im Club sind die Jungs längst nicht mehr die jüngsten. Sie sind mindestens zehn Jahre über dem Durchschnitt geraten. In der Bar fiel das nicht auf, weil sie einen Mikrokosmos gründeten.

Aber auf der Tanzfläche ist der Altersunterschied öffentlich sichtbar. Die Jungs wollen davon sich nicht beirren lassen. Sie poltern an der Bar, bestellen Shots, grölen und begutachten die Ärsche der weitaus jüngeren Frauen. Der Mutigste tanzt. Nach fünfzehn Minuten jedoch schwitzt der Mutigste bereits. Er muss pausieren, heisst rauchen.

Die Übrigen rasten im Raucherbereich. Dort wollen sie die angefangenen Gesprächsthemen fortführen. Das gelingt nicht. Stattdessen lassen sie ein unangenehmes Schweigen entstehen, das sie mit Nostalgien aufbrechen wollen, indem sie auf vergangene Ereignisse in ebendiesem Raucherbereich verweisen.

Die dem Altersdurchschnitt angemessenen Jungs feiern. Sie sind selbstversunken in ihren Cliquen. Sie bemerken die alternden Jungs nicht. Sie fühlen sich nicht gestört. Das ist das Los einer liberalen Gesellschaft, dass unterschiedliche Lebenswirklichkeiten gelegentlich an einem Ort sich verdichten und transparent werden. Das muss man aushalten können.

Die alternden Jungs können sich nicht amüsieren. Nicht so wie vorgestellt. Nicht so wie früher. Zunächst belasten sie ihre Alkoholvermögen. Das anfängliche Bier ist rasch ersetzt, sie wechseln zum Club Mate mit Schuss, der ultimative Kraftstoff aus Berlin für alternde Jungs aller Grossstädten. Zucker, Alkohol und Koffein gemixt.

Doch auch Club Mate kann die Müdigkeit der alternden Jungs nicht lösen. Vermutlich kein Alkohol. Allmählich ist schon nach Mitternacht. Entweder Party jetzt oder nie. Deswegen kontaktieren sie einen weitere Kollegen. Der kann etwas Aufmunterndes liefern. Für hundert Franken kann die kleine Runde aufgerüstet werden. Deal.

Beschämt verstecken sich die alternden Jungs aufm Frauenklo. Dort rupfen sie den Stoff. Sie teilen ihn brüderlich. Sie projizieren Feiern, Freiheit und unendliche Libido. Gewiss hat der Stoff eine fragwürdige Herkunft. Er ist in einem Klopapier eingewickelt. Die Qualität ist der Uhrzeit und der Quelle entsprechend. Man darf um 01:30 nichts erwarten.

Nichtsdestotrotz konsumieren ihn die alternden Jungs. Vermutlich ist der Effekt auch bloss ein eingebildeter. Das ist unerheblich, die Wirkung entscheidet. Mit ausgedehnten Pupillen verlassen sie seriell das Frauenklo. Sie versammeln sich wieder auf der Tanzfläche. Sie zünden eine beherrschte Extase. Sie probieren, Ausdrücke zu tanzen.

Das gelingt einzelnen, aber nicht allen. Der Tanz ist gekünstelt, einstudiert und von monotonen Abläufen durchzogen. Sie versuchen die Aufmerksamkeit der jüngeren Frauen zu erlangen, aber vergebens. Die jüngeren Frauen sind bereits ausreichend vergnügt mit ihren angemessenen Jungs.

Der Stoff ist bekanntlich mangelhaft, die Wirkung bloss virtuell. So befallen erste Zweifel die alternden Jungs ob ihrem Tun. Die Sinnhaftigkeit ihres Daseins hier auf der Tanzfläche kann durchaus bestritten werden. Gewöhnliche Jungs ihres Alters schlafen bereits, sie hausen in genormten Reiheneinfamilienkabinen in der Agglomeration der Grossstadt.

Eine erzwungene Ekstase ist keine. Eine Ekstase ist natürlich und spontan. Sie kommt und vergeht. Sie kann nicht dosiert werden. Sie ist binär. Die grösste Extase entsteht, wenn sie nicht geplant ist. Sie beginnt unscheinbar, unerwartet, und überrascht einen mit einer gewaltigen Wucht. Sie kann sich überall entladen, nicht bloss auf der Tanzfläche.

Der uninspirierte Tanz der alternden Jungs erschlafft immer mehr. Man möchte diesem Verwelken nicht zuschauen müssen. Die alternden Jungs spüren das. Sie haben jetzt folgende Optionen. Entweder kapitulieren sie, ziehen sich geordnet zurück, essen einen Döner, onanieren kurz im Badezimmer, vergessen die Nacht.

Oder sie beschleunigen. Sie erhöhen die Dosis, sie beschaffen besseren Stoff, sie trinken effizienteren Alkohol, sie feuern sich gegenseitig an, dass heute der magischer Abend sei. Entweder-oder. Das muss jeder persönlich wählen. So separiert die Gruppe sich das erste und nicht das letzte Mal.

Die Vernünftigen verabschieden sich. Sie werden nicht gehindert. Weil alle sind der allgemeinen Ausweglosigkeit sich bewusst. Man wünscht gegenseitig sich viel Glück und Besinnung und einen sogenannten Endsieg; die Erlösung von allen Sinnen. Der Endsieg ist der angestrebte Zustand völliger Selbstauflösung.

Die Unvernünftigen oder vielmehr Suchenden organisieren einen besseren Stoff. Erneut verbarrikadieren sie sich im Frauenklo. Sie starten die nächste Stufe. Auf der Tanzfläche können sie nun endlich ihre Darbietung intensivieren. Sie überleben problemlos die nächste Stunde. Plötzlich erklingt «One More Time» von Daft Punk.

Das Lied signalisiert die Polizeistunde. Den Jungs ist aber nach «Drei Tage Wach». Also müssen sie den Club wechseln. In der Grossstadt ist das unproblematisch. Nach vier Uhr nachts beginnt die sogenannte Afterhour. Dort lungern weitere alternde Jungs und auch Mädchen, die nicht resignieren können.

Ein gewöhnlicher Familienvater gleichen Alters verirrt sich niemals in so ein Lokal, das erst um fünf Uhrs nachts einen Höhepunkt zelebriert und das Rauchen in allen Räumen erlaubt. Ein gewöhnlicher Familienvater hat gewiss etwas davon gelesen oder kennt jemanden, der mal dort war. Ein gewöhnlicher Familienvater beendet in Würde den Abend.

Die alternden Jungs sehnen sich nach dem Endsieg. Sie provozieren eine Entscheidungsschlacht. Also torkeln sie in den Afterhour-Club. Ein Taxi befördert sie rasch und unkompliziert. Den immer noch hohen Eintritt berappen sie widerstandslos; niemand murrt, niemand beklagt den Preis, wo manche sonst sehr preissensitiv sind.

In diesem Club muss man sich nicht im Raucherbereich zurückziehen. Denn der komplette Club ist ein Raucherbereich. Man muss bloss den richtigen Raum wählen. Manche Räume sind zum Knutschen vorgesehen, manche zum Diskutieren und eben ein anderer zum Tanzen. Die alternden Jungs trotten zum Tanzraum.

Mittlerweile hat sich auch die Wirkung der zweite Stufe verflüchtigt. Dennoch sind die alternden Jungs bemüht, keine nachlassende Wirkung einzugestehen. Sie aktivieren ihre Reserven, die sie unter der Woche in ihren Bürojobs angehäuft haben, die sie aber nicht klüger zu verwenden wissen.

Diesmal können sie Aufmerksamkeit generieren. Ebenso gleichzeitig alternde Frauen signalisieren unbewusst Interesse, das sie aber mit ihrer geprüften und verlebten Coolheit überspielen, weil sie nicht als leichte Mädchen vorverurteilt werden wollen, obwohl sie mit mindestens sechzig Männer der Grossstadt intim waren.

Man kennt sich schon von vergangenen Nächten. Es ist kein Erstkontakt. Die einen haben bereits miteinander geschlafen. Das Szenario war ähnlich. Morgens um fünf Uhr irgendwie abgeschleppt oder abgeschleppt worden. Das ist nicht mehr eindeutig rekonstruierbar. Danach mit dem Taxi heim, in die verdreckte Wohnung.

Ein wenig in der Küche geknutscht, weil es so aufregend ist. Danach Hand-in-Hand ins Schlafzimmer. Doch leider kam es nie zum Geschlechtsakt. Einmal musste sich die gleichzeitig alternde Frau übergeben. Ein andermal konnte auch mit manuellem Nachdruck der Penis des alternden Jungs sich nicht angemessen heben.

Man ist eigentlich alt genug, um zu wissen, dass eine sexuelle Begegnung um fünf Uhr morgens nach mehreren Linien Aufmunterndes und mehreren Litern Alkohol sehr wahrscheinlich nicht fruchten mag dergestalt, wie man sich das eigentlich wünscht. Aber hier will man sich blenden und will im Einzelfall es besser wissen.

Der eine lässt sich also verführen. Er ist besessen von seiner Potenz. Er will heute sich selber etwas beweisen. Die eine gleichzeitig alternde Frau ist empfänglich. Sie weiss ebenso, dass männliches Stehvermögen um diese Uhrzeit ausgestorben ist, zumindest in diesem Afterhour-Club, im Bordell gegenüber hoffentlich weniger.

Sie möchte sich nicht mehr so leer und einsam fühlen. Sie möchte erfüllt und gefüllt werden. Sie braucht den alternden Jungs für ihre Zwecke. Der alternde Jungs sie ebenfalls. Daher ist das eine akzeptierte Zweckbeziehung, die beiden dient. Doch auch heute werden beide nicht erreichen, wonach sie trachten. Sie werden gleichzeitig sich enttäuschen.

Die übriggebliebenen alternden Jungs quetschen weiterhin ihren Körper, überbeanspruchen die letzten Reserven. Sie ordern weitere Shots. Wer um sechs Uhr morgens in einem Afterhour-Clubs noch Shots schlucken muss, kann den Endsieg wohl schon bald greifen. Denn diese Shots verschütten das letzte Bewusstsein unserer alternden Jungs.

Denn fortan dämmern sie im Zustand des Endsieges. Sie pöbeln mit Wildfremden. Sie wollen sich selber verletzen. Im Zustand des Endsieges obsiegt der Todestrieb. Man will sich gegenseitig vernichten. Die alternden Jungs sind weder in der Verfassung noch in der Veranlagung, dass sie eine Schlägerei mit fitten und kräftigen Jungs überdauern könnten.

Insgeheim wissen sie das auch. Sie wollen erniedrigt und verprügelt werden. Sie wollen sich ultimativ körperlich wieder spüren. Sie opfern sich. Die Schlägerei ist entfacht. Die alternden Jungs wollen sich heroisch gebieten, doch sie scheitern. Sie werden nacheinander bewusstlos geschlagen. Nun liegen sie da.

Sie erwachen alle im Spital. Alleine der Transport wird sie finanziell stressen. Auch die Behandlungskosten müssen sie selber schultern, da sie nachweislich zu viel Alkohol und andere Drogen konsumiert haben. Sie gratulieren sich gegenseitig, alles richtig gemacht zu haben. Sobald sie wieder können, werden sie wieder wollen.


Eine Antwort zu «Die alternden Jungs»

  1. […] der Geschichte über die alternden Jungs habe ich den sogenannten Endsieg als dämmerhaften Zustand eingeführt. Der Endsieg vervollkommnet den Todestrieb. Der Endsieg erstarrt, erübrigt das Leben. Es ist die […]

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