Month Februar 2019

Mit Widerspruch

Das Leben ist widersprüchlich. Ich verkörpere den Widerspruch. Ich praktiziere, was ich negiere. Ich verabscheue die Arbeitswelt, diene ihr gleichzeitig in Vollendung. Ich verteufle feste Partnerschaften, falle gleichzeitig ihnen anheim. Ich will mich mässigen, beschleunige gleichzeitig ins Unendliche. Ich denke, rede gleichzeitig.

Die Widersprüche existieren. Ich bin mittlerweile geartet so, dass ich Widersprüche erdulde. Ich erkenne sie, gleichzeitig ignoriere ich sie. Das Muster wiederholt sich. Gelegentlich werweisse ich, wielange ich diese Widersprüche noch verkraften kann. Derzeit befürchte ich, dass sie mich (noch) nicht bremsen.

Ich bin so widersprüchlich, weil ich gleichzeitig so gleichgültig bin. Ich lebe, als wäre ich längst gestorben. Ich kann nichts verlieren, weil ich mich bereits verloren fühle. Ich muss daher keine Konsequenzen abwägen oder einschätzen. Ich kann drauf los leben. Kein moralischer Nordstern orientiert, erinnert oder leitet.

Ich lebe ohne Anleitung und Orientierung. Die existenzielle Frage, die gelegentlich sich aufdrängt, ist die Frage nach dem Freitod. Ich will noch leben. Das erübrigt die Frage. In Details kann ich begründen, warum ich (noch) nicht sterben möchte. Das klärt. Falls ich unglücklich verunfalle, kann ich das akzeptieren.

Der Widerspruch begleitet mich. Der Widerspruch besetzt etliche Lebensbereiche. Alleine den Widerspruch zwischen meiner Lebens- und Todessehnsucht werde ich niemals aufheben können. Der durch den Widerspruch provozierte Konflikt ist, was mich befeuert. Seit ich bewusst denke, bin ich widersprüchlich.

Ich sehne mich nicht nach dem Zustand der Auflösung, nach dem Zustand der Harmonie. Einen Widerspruch beseitige ich mit einem noch grösseren Widerspruch. Ich kann bloss ganz futuristisch weiter Widersprüche auftürmen. Sobald alles zusammenbricht, starte ich erneut. Solange meine Lebensenergie noch ausreicht.

Ich beginne den Tag mit dem Widerspruch. Ich mag nicht aufstehen. Ich möchte hängen. Ich möchte lesen, rauchen und masturbieren. Danach lesen und schreiben. Ich möchte meine Zeit vergeuden, bewusst verschwenden. Ich möchte nicht arbeiten. Ich möchte nicht mich verpflichtet und verbunden fühlen. Ich möchte vegetieren.

Gleichzeitig habe ich meine Existenz mit einigen Verpflichtungen beladen. Diese muss ich fortan tragen. Doch ich begrenze mich. Ich kann derzeit keine weiteren Verpflichtungen bewältigen. Ich müsste einige delegieren. Allerdings kann und will ich auch nicht alle abtreten. Sie bilden seitdem meine Identität.

Ich habe mich mit den Widersprüchen meiner Existenz arrangiert. Ich habe Widersprüche als mein Lebensfeuer begriffen. Ich könnte niemals in einer widerspruchsfreien Existenz ruhen, irgendwie mich begnügen und sicher fühlen. Ich verlange den Rausch, das Unbeständige und den Widerspruch.

Ein politischer Flüchtling

Bekanntlich bin ich wegen Frau und Kind nach Basel ausgewandert. Ich habe anfänglich mich leicht, aber dennoch zurückhaltend sozialisiert. Ich konnte mich mit Nachbarn und Ärzten vernetzen. Einigermassen. Denn ich suche grundsätzlich keine Freunde, ich bin ausreichend bedient und zufrieden.

Mittlerweile bin ich in Basel gestrandet. Ich werde hier bleiben. Ich habe Olten verlassen, meinen verwegenen Heimatort. Und ich werde auch nicht zurückkehren. Denn ich werde mich hier in Basel um meine behinderte Tochter kümmern. Formell sind 40 Prozent vereinbart. Diese werde ich ausschöpfen.

Basel-Stadt ist denn auch nicht die Schweiz, die wir im Mittelland kennen. Der Bund deklariert Basel-Stadt als sogenannte Grenzregion. Basel besitzt einen Hafen, mehrere Becken. Ein weiteres Becken ist geplant. In Basel sind Elsässer wie Südbadener gleichberechtigt daheim. Man spricht einen ähnlichen Idiom. Man versteht sich.

In Basel schätze ich, dass Basel ein Stadtkanton ist. Kein Speckgürtel, keine Agglomeration, nichts beeinträchtigt das Wahlverhalten. Wir haben keinen Stadt-Land-Graben, weil wir blosse Stadt sind. Das Umland ist überdies nicht einmal schweizerisch, sondern wird entweder aus Paris oder aus Stuttgart regiert.

Ich habe etliche Legenden aufgeschnappt, wie sonderbar Basel-Stadt im schweizerischen Vergleich ist. Ich will gehört haben, dass private Erträge von Immobilienverkäufen die städtischen Parkanlagen subventionieren. Das erklärt deren üppige Ausstattung im Vergleich zum Oltner Stadtpark oder Vögeligarten.

Mittlerweile bin ich in Basel isoliert. Ich besuche unregelmässig die eine Bar. Dort kenne ich die Stammgäste vom Sehen. Ich habe bislang noch mit niemandem gequatscht, keine Nummern getauscht oder erste Verknüpfungen erstellt. Das stört mich nicht. Ich habe auch bloss mit einer Baslerin im Ausgang gequatscht – während einer Firmenfeier.

Beruflich kenne ich etliche Basler, momentan bin ich hier stationiert bis Ende Juni. Danach werde ich vermutlich wieder nach Zürich oder Bern pendeln müssen. Ich trenne aber Beruf und Privat. Daher überschneiden sich solche Bekanntschaften nie. Nur des Berufes wegen kann ich mich also nicht integrieren hier.

Ich möchte nicht darüber klagen. Ich bin zufrieden mit diesem Zustand. Ich habe die Narrenfreiheit, mich hier bewegen zu können, ohne dass mich jemand “kennt” im engsten Wortsinn. Ich geniesse diese Anonymität. Bald werde ich auch in einer anonymen Überbauung hausen, auf die Autobahn und Kleinbasel blicken.

Ich fühle mich hier sicher. Vor allem politisch sicher. Basel-Stadt ist gemäss SDI ziemlich grün. Ich erkenne sogar gelbe Tendenzen, weil Basel-Stadt akzeptiert. Es ist – ganz typisch Grossstadt – die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Interessen, die keine Gesellschaft mehr bilden. Das reizt und entspannt mich.

Ich bin hier kein Freak, Sonderling oder ein Ausgestossener. Ich bin bloss ein politischer Flüchtling, der wegen der Liebe zur eigenen Tochter hier harrt. Die Stadt empfängt mich zwar nicht, sie umarmt mich nicht, aber sie lehnt mich auch nicht ab. Sie toleriert mich einfach. Ich kann mich sogar mittlerweile hier identifizieren.

Bald verlasse ich mein originales Viertel. Der Park in meinem Viertel ist bezaubernd. Er ist überdimensioniert. So viele Gerätschaften. So viele Anlässe. Ein Park-Restaurant. Morgen-Yoga selbstredend auch. Ein Hindernis-Parcour für Jung und Alt. Ein periodischer Flohmarkt. Auch Jazz im Park fehlt nicht.

Mehrgeschossige und jahrhundertealte Stadtwohnungen schmücken den Park. Die Eintrittshürde sind zweitausend Franken für einen nicht renovierten Altbau. Mehrere Spätkaufs für die Jugend. Die Lokalzeitung empört sich dennoch über die Kriminalität. Abends sei der Park gefährlich, weil nicht verschliessbar.

Mein neues Viertel hat noch keinen Park. Alles ist im Entstehen. Es war vormals ein Areal der Zwischennutzung. Die Generation Golf hat sich dort verausgabt. Sie erinnert sich gerne. Dort entstand Minimal Techno in der Schweiz, der sich dann im alten Nordstern popularisiert hat. Es war wild, ungestüm und baslerisch.

Der Park ist frisch angelegt worden. Er ist gleichsam überdimensioniert und üppig. Nebenan liegt der bekannte Tierpark, der kostenlos ist. Ein nach SDI grünes Community Center vereint unterschiedliche Kulturen und Einkommensstrukturen. Man kann dort abends essen, Musik hören und sich verbinden.

Vermutlich werde ich dann dort ausgehen. Vermutlich werde ich unterstützen und mithelfen. Ich kann, so glaube ich zumindest, Knowhow bieten. Aufgrund meines Berufes bin ich erfahren und erprobt, Dinge zu organisieren, auch wenn ich bisweilen chaotisch und planbar privat mich gebärde.

Denn ich bin irgendwie besessen, Basel-Stadt zu danken, dass Basel-Stadt meine Tochter aufnimmt. Basel-Stadt verbannt die Behinderten nicht. Basel-Stadt stützt und fördert sie. Behinderte müssen sogar Regelklassen besuchen. Bei meiner Tochter ist der Grad der Behinderung allerdings so schwer, dass das wirklich sinnlos ist.

Aber die Absicht und Intention gefallen mir. Hier in Basel-Stadt dümpelt die ansonsten so omnipotente SVP auf ungefähren fünfzehn Prozent herum. Das auch bloss wegen der verschweizerten Vierteln wie Bruderholz oder Hirzbrunnen. In Matthäus oder in meinem zukünftigen Rosental existiert die SVP nicht.

Ich freue mich auf meine Zukunft hier in Basel-Stadt. Bald ist leider wieder eine Steuerrechnung fällig. Doch diese wird mich nicht ernüchtern. Es ist mir wert, vor allem und wegen meiner Tochter, die hier die besten Bedingungen in der Schweiz hat. Danke Basel-Stadt.

Der Prototyp

Ich fühle mich als Prototyp. Als Prototyp für diese Welt. Ich fühle mich gleichzeitig gescheitert. Ich kann mir meine Welt konstruieren. Ich kann seiltanzen, mit dem menschlichen Abgrund liebäugeln. Ich kann gleichzeitig mich unterordnen und tarnen, nicht sonderlich auffallen. Ich operiere aber im Inkognito Modus.

Ich habe persönliche Abwehrstrategien entwickelt, die mich vor dem Elend der Welt und meiner eigenen bescheidenen Existenz schützen. Sie lassen mich nicht verzweifeln. Stattdessen treibe ich weiter ganz futuristisch. Ich bejahe bloss die Zukunft, das Kommende und vergesse das Vergangene.

Ich bin zäh einerseits, verletzlich andererseits. Die Verhältnisse bringen mich nicht um. Ich kann ungesund mich ernähren, meinen Körper verschwenden und ruinieren. Ich bin furchtlos, ungestüm und selbstzerstörerisch. Ich kann funktionieren, auch wenn ich ohne Funktion bin. Ich lasse keine Möglichkeit ungenutzt.

Gleichzeitig bin ich verletzlich. Ich möchte wehklagen, alles Elend bedauern, meine Fehler bereuen, meine Unachtsamkeiten wiedergutmachen. Ich kann empfinden und verstehen. Ich kann etliche Fragen beantworten oder die Beantwortung anleiten. Man kann mich als Gesprächspartner und Vertrauter schätzen.

Ich vereine unterschiedliche Kompetenzen. Ich bin bemerkenswert breit, gleichzeitig bin ich beschämend flach, sobald Tiefe erforderlich ist. Ich habe kaum eine Disziplin in ihrer Totalität verinnerlicht. Das qualifiziert mich als Prototyp. Deswegen kann ich in dieser Welt überleben und stets angemessen mich neu erfinden.

Schliesslich praktiziere ich einen Generationsberuf. Ich bin ein Nichtsmacher und Allessager. Ich verkaufe Mut, Kühnheit, Sicherheit und Gelassenheit gleichermassen. Ich spezialisiere mich nicht, ich sammle bloss weitere Erfahrungen und Referenzen. Ich kombiniere das zu einem einzigartigen Profil.

Ich werde mehrheitlichs als Inkubator eingesetzt, stets befristet. Ich unterstütze die Kunden beim Wirken. Ich potenziere. Ich stelle dabei nichts her, ich erarbeite auch nichts, sondern ich handle. Ich gestalte die Lebenswirklichkeiten meiner Mitmenschen. Im Jargon bin ich Influencer mit einer bezahlten Reichweite.

Ich fühle mich als Prototyp. Ich fühle mich gerüstet für die Herausforderungen der Gegenwart. Ich kann irgendwo verarmen und meine Unfähigkeit der Erwerbsarbeit bejammern. Ich kann ebensogut in einer überteuerten Stadtwohnung mit Koks und Nutten meine Restgesundheit verspielen. Ich bin zu beidem fähig und auch willens.

Ich bin beliebig und ganz ohne Eigenschaften. Ich kann wandeln, maskieren, verstecken und fliehen. Gleichzeitig kann erledigen, was erforderlich ist, unterordnen, wo gerade schicklich, antworten, was gehört werden will. Ich kann Normalität simulieren. Ich kann Illusionen produzieren.

Dennoch versterbe ich zu früh. Denn ich bin bloss ein Prototyp. Die marktfähige Version wird bald folgen und das 21. Jahrhundert erobern. Ich bin das nicht. Das werde ich auch niemals sein. Und deswegen sollte ich mich auch nicht vermehren. Ich kann nichts lehren. Ich kann bloss überleben.

Die Arbeit und die Automation

Die Arbeit und damit die Begriffe der Arbeitswelt durchringen unsere Lebensbereiche. Die Arbeitswelt ist die erfolgreichste Konstruktion des letzten Jahrhunderts. Die Arbeit erobert das komplette menschliche Tun. Wir arbeiten bloss noch. Selbst seriöse menschliche Beziehungen nennen wir Beziehungsarbeit.  

Sie hat die Kriege der grossen Ideen überlebt. Der Erste wie auch der Zweite Weltkrieg konnten die Arbeitswelt nicht stören. Die Arbeitswelt hat die komplette Welt besiedelt. Die meisten Existenzen dieses Planeten unterwerfen sich der Arbeit. Doch die Arbeit kleidet sich harmlos. Sie gebiert sich als Befreier. Arbeit macht frei.

Die Arbeit kontrolliert den Planeten. Sie hat eine eigene Sprache und Zunft herausgebildet. Es sind Blätter wie The Economics, The Wall Street Journal, Financial Times, weniger die NZZ und die FAZ, die weltweit rezipiert werden. 50% der realistischen Kulturgüter behandeln die Arbeit, die übrigen etwas wie Liebe.

Gewiss irrlichtere ich ebenfalls in der Arbeitswelt. Ich bin ebenso darin verwickelt. Ich habe die Fachbegriffe verinnerlicht. Ich kenne die Prozeduren und Mechanismen. Das sind wiederholende Muster. Sie regeln nicht bloss den Arbeitsprozess, sondern auch die Arbeitsbeziehungen. Ich könnte technisch hier, in Hongkong oder in Kapstadt wirken.

Die Arbeitswelt vernichtet Individualismus und Menschlichkeit. Sie ist eine Maschine. Ironischerweise automatisiert seit den 50er die Maschine die Arbeit. Die Automation dominiert die Investitionen in der Arbeitswelt. Die höchste Wertschöpfung erzielt die Arbeit derzeit, wo sie völlig von Materie und Gütern entfesselt ist: an den vernetzten Börsen.

Gerade dort ist die Automation vollends geglückt. Man schätzt, dass die Hälfte des Handels automatisiert und ohne menschlichen Einfluss getätigt wird. Algorithmen wetten gegeneinander. Selbst der entfernte und schusselige Privatanleger nutzt solche Algorithmen in seinem eBanking, wenn er Handelsaufträge mit Limiten zeichnet.

Die Automation gefährdet die menschliche Identität. Spätestens seit der protestantischen Arbeitsethik, exemplarisch durch Max Weber analysiert, ist die Arbeit “gut” und “notwendig”. Sie stiftet Sinn, Identität. Wir sind alle aufs Arbeitsleben ausgerichtet. Auch die staatlichen Institutionen sind beflissen, uns für die Arbeitswelt zu rüsten.

Es ist das Wesen der Arbeit, dass sie reproduzierbar ist. Der Mensch ist ersetzbar. Die Textilindustrie ist eine klassische Wanderindustrie. Sie bewegt sich gerade dorthin, wo die Bedingungen des Arbeitsmarktes günstig sind. So war vor der Industrialisierung die Ostschweiz der Hotspot der damaligen Textilindustrie.

In unserer Alltagssprache wissen wir, dass wir immer jemanden finden, der arbeitet. Wir gingen nun aber jahrhundertelang davon aus, das seien Menschen mit vermeintlich niedrigeren Anforderungen. Wir haben akzeptiert, dass die Dritte Welt fabriziert, wir konstruieren und konsumieren. Das war für alle irgendwie gut.

Nun bedroht die Automation den Menschen in der Arbeit. Ich persönlich befürworte das. Denn die Arbeit hat den Menschen entwürdigt. Die freien Griechen der Antiken mussten nicht arbeiten. Sie durften philosophieren, denken und handeln. Doch sie waren eine Minderheit. Die Mehrheit der Gesellschaft waren Sklaven.

Sklaven mussten arbeiten. Das war ihre Bestimmung. Deswegen nannte man sie auch Sklaven. Das war ehrlich und transparent. In der Schweiz müssen alle arbeiten, ausgenommen Erbreiche, aber auch die müssen arbeiten, damit sie gesellschaftlich nicht ausgestossen werden. Dass alle arbeiten können, ist der Primärzweck der Politik.

Die Politik beabsichtigt die sogenannte Vollbeschäftigung. Das ist der ideale Zustand einer arbeitenden Gesellschaft, wo alle Arbeit haben. Unsere Gesellschaft ist so konzipiert, dass sie grösstenteils arbeitend ist. Das Nichtarbeiten ist verboten. Wer ohne Arbeit ist, also arbeitslos, muss sich sofort bei der Arbeitslosenversicherung anmelden.

Die Arbeitslosenversicherung respektive die korrespondierende Ausgleichskasse (kantonale oder private) berechnet basierend auf der letzten Arbeit das Taggeld für die Arbeitslosigkeit. Das Taggeld ist zeitlich beschränkt. Die oberste Priorität hat die sogenannte Wiedereingliederung. Dafür ist die regionale Arbeitsvermittlung beauftragt.

Wer innerhalb dieser Frist nicht wieder arbeitet, verliert den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Man nennt diese Menschen “ausgesteuert”. Sie verschwinden fortan aus der Statistik der Arbeitslosen. Wir alle schämen uns derentwegen. Sie sind der “Schandfleck” der Gesellschaft, weil sie nicht mehr arbeiten.

Wer kann, rettet sich in die Invalidenversicherung. Dort ist aufgehoben, wer wegen nachweisbaren Gründen nicht mehr arbeiten kann. Doch auch die Invalidenversicherung verfolgt die oberste Maxime der Wiedereingliederung. Das führt teils zu absurden Situationen, wenn die Bürokratie zu bürokratisch ist.

Wen die invalidenversicherung nicht akzeptiert, weil er eine Arbeitsunfähigkeit nicht begründen kann, muss mit der Sozialhilfe sich arrangieren. Das ist eine kommunale Fürsorge, die in der Schweiz weder garantiert noch reglementiert ist. Eine Konferenz verabschiedet regelmässig Empfehlungen, doch jede Gemeinde kann selber walten.

Die Sozialhilfe wiederum ist bemüht, die Arbeitslosen möglichst rasch an die Invalidenversicherung zu delegieren. Oder zur Arbeit zu zwingen. In der Sozialhilfe herrscht in den meisten Kommunen ein Arbeitszwang. Die Sozialhilfe kürzt, wer nicht teilnimmt. Es ist Fronarbeit. Wer genügend front, erhält einen symbolischen Zuschlag.

Ich möchte nun nicht mit der Altersvorsorge fortfahren. Es ist unmissverständlich, dass die Altersvorsorge ebenso an der Arbeitstätigkeit gekoppelt ist. Wer nicht genügend gearbeitet hat, muss sogenannte Ergänzungsleistungen beantragen. Diese kompensieren. Die Zweite Säule hingegen verdienen bloss die fleissig Arbeitenden.

Nicht bloss unsere Sozialversicherungen, unsere Politik und unsere Gesellschaft beruhen auf der Arbeit, sondern auch unsere zwischenmenschliche Beziehungen, unsere Identitäten und unsere Weltanschauungen. Wenn wenigstens eine Religion den Zweikampf zwischen Arbeit und Mensch schlichten könnte, dann wäre ich weniger besorgt.

Die Arbeit fängt den Menschen auf. Die Arbeit beseelt den Menschen. Die Arbeit beruhigt den Menschen. Die Arbeit besänftigt den Menschen. Die Arbeit befriedet den Menschen. Ohne Arbeit ist der Mensch unglücklich, unvollkommen, unzufrieden. Wer arbeitslos ist, fühlt sich minderwertig, mangelhaft, verbannt quasi.

Die Automation existiert. Sie hat noch nicht beschleunigt. Wir domestizieren die Autoḿation. Die Politik bekämpft die Automation, indem sie sogenannte Arbeitsplätze reklamiert. Die Automation ignoriert Arbeitsplätze. Die Automation automatisiert die Arbeit. Die Automation ist die Evolution der Arbeit.

Noch ist die Automation zahm. Wir rechtfertigen sie, weil sie neue Arbeitsplätze schafft. Doch in wenigen Jahrzehnten übernimmt die Automation die Arbeit der Mustererkennung. Die Mustererkennung ist die Disziplin der sogenannten Wissensarbeiter. Das ist die Arbeit von Juristen, Ärzten, Beratern, Verkäufern, Analysten.

Als die Automation die Fabrik sanft optimierte, haben wir das als Fortschritt verkündet. Die Automation erlöse den Menschen. Wir fühlten uns stets der Automation überlegen. Wir haben deswegen den Begriff der Wissensarbeit erfunden, der uns von der ausführenden und repetitiven Arbeit unterscheidet.

Die Automation kann bereits heute Muster erkennen. Doch wir zögern. Wir sind verunsichert. Ist es die späte Einsicht? Jetzt bin ich zum Tod geworden, der Zerstörer der Welten? Warum entfesseln wir nicht die Automation? Irgendjemand wird es tun. Irgendjemand wird die Automation loslassen. Chinesen, FSF-Hacker, Spass-Terroristen oder EU-Bürokraten?

Sobald die Eintrittshürden fallen, vernichtet die Automation unsere bisherige Gesellschaft. Unsere sozialen Systemen werden zusammenbrechen. Wir sind nicht vorbereitet. Die Automation kann bloss mit einer Weltanschauung, mit einer Identität begegnet werden, die jenseits von Arbeit sich definiert.

Und das ist derzeit nicht aushandeln. Die Arbeit hat den Lebenssinn monopolisiert. Weil Arbeit Erwerbsarbeit bedeutet. Ohne Erwerb kein Einkommen. Ohne Einkommen kein Sinn, Identität; kein Leben. Wir arbeiten, um zu leben. Doch eigentlich leben wir, um zu arbeiten. Wir haben das einfach nicht bemerkt.

Hier muss man sich den herrschenden Verhältnissen unterordnen. Wer nicht arbeitet, ist ausgestossen. Wir beschimpfen Arbeitsverweigerer. Sie werden mehr geächtet als Militärdienstverweigerer. Linke wie Rechte jagen den Arbeitsscheuen. Es ist der gemeinsame Feind aller Politik.

Ich kann die Verhältnisse nicht ändern. Ich kann experimentieren. Ein Gedankenexperiment für heute, doch bereits morgen eine Wirklichkeit, weil sie keine Einstiegskosten verursacht. Die Idee ist, dass alle Menschen in der Schweiz, die seit ihrem 16. Lebensjahr mehr oder weniger ohne Unterbruch gearbeitet haben, zwei Jahre lang sich arbeitslos melden.

Die meisten Lebensläufe in der Schweiz sind lückenlos. Die meisten Menschen arbeiten seit ihrem 16. Lebensjahr. Die kleinen Lücken werden gefüllt, geschmückt. Niemand will eine Lücke wahrhaben oder preisgeben. Sie befremdet, sie irritiert. Ich fordere aber eine bewusste Lücke und propagiere deswegen:

Zwei Jahre Arbeitslosigkeit für alle mindestens einmal im Leben und besser jetzt als später. Damit will ich die Menschen provozieren. Wer bin ich? Und warum bin ich hier? Sobald ich keine Arbeit mehr habe, die mich hierüber aufklärt, muss ich nachdenken, ich muss philosophieren. Das kann das individuelle Wertesystem verändern.

Ich erachte diese Massnahme als eine Art ziviler Ungehorsamkeit. Die individuellen Kosten sind überschaubar. Die Arbeitslosenversicherung kann den Erwerbsausfall grösstenteils decken. Keine Familien werden wegen des Geldes auseinanderbrechen. Vermutlich eher wegen anderen Gründen.

Ebenso kann die Gesellschaft entspannt sein. Es ist keine eigentliche Rebellion. Es ist bloss befristeter Widerstand, der so individuell nicht auffällt. Man könnte das als eine Art Auszeit verallgemeinern. Es ist bloss ein Stresstest für unsere Gesellschaft, die nur noch arbeiten kann. Und daher ein spannendes Experiment.