Month November 2016

Das gefährliche Leben

Das Leben gefährdet uns. Deswegen wollen wir’s im Griff haben. Deswegen mitigieren wir alle möglichen Risiken. Deswegen ernähren wir uns gesund; verpönen das Rauchen und unkontrollierte Trinken. Wir blinken vorm Abbiegen. Wir impfen uns vorm Tropenurlaub. Wir schützen unseren Geschlechtsverkehr. Weil wir verängstigt sind.

Wir studieren Erziehungsratgeber. Wir konsultieren in jeder Lebensfrage unseren Psychologen. Wir recherchieren im Internetz über alle Medikamente und Inhaltsstoffe. Wir bauen Mauer, wir wählen SVP. Wir verbieten unseren Kindern den Sandkasten. Wir versichern unseren Todesfall. Wir reisen nicht nach Israel.

Das Leben überrascht uns mit lauter Komplikationen. Wir rüsten uns mit Vitaminen. Wir investieren in eine künftige Privatpflege. Das Leben ist eine grosse Gefahr. Wenn wir eine Strasse überqueren, könnten wir überfahren werden. Wir könnten jederzeit sterben. Hier ein Flugzeugabsturz, dort ein Terroranschlag. Hier ein Virus, dort ein Bakterium.

Das Leben ist fragil, verletzlich. Es kann jederzeit auseinanderbrechen. Unser kompletter Organismus funktioniert bloss als Einheit. Kopf und Bauch sind gekoppelt. Dennoch überlebten wir eine Eiszeit. Die Menschheit hat sich erfolgreich vermehrt. Wir haben die Pest, Pocken und die Nazis besiegt. Auch Hiroshima und Nagasaki haben wir bewältigt.

Wir spalten Atome, wir befruchten künstlich. Wir beschleunigen Teilchen. Wir erforschen das Sonnensystem. Wir tauchen in die Tiefen der Meere. Wir besiedeln Wüsten. Wir verwüsteten Ländereien, wir eliminierten industriell komplette Rassen. Wir verblöden im Film und Fernsehen. Wir verstopfen unsere Arterien mit Dreck. Dennoch leben wir.

Wir werden als Rasse fortbestehen. Wir müssen uns nicht fürchten. Ich kann somit alle Menschen verstehen, die keine Haftpflichtversicherung abonnieren möchten. Ich kann alle verstehen, die gerne und riskant gratwandern. Ich kann die Zuversicht und den Optimismus verstehen, der uns alle beseelt und motiviert. Lassen wir uns nicht einschüchtern.

Der einsame Wolf

Der einsame Wolf erwacht abends. Er wäscht sich. Trockenfleisch stärkt ihn. Ein Schluck Wodka, mit Red Bull gemischt. Nun ist er wach. Sein Hemd bügelt er nicht. Er trägt abgewetzte Lederschuhe. Sein Schal stinkt nach Rauch. Vermutlich der gestrige Abend. Sein Magen brennt. Sein Nateldisplay ist zerkratzt.

Er wappnet sich gegen die Kälte der Nacht. Bloss seine überholte Jacke wärmt ihn noch. Ansonsten ist er erkaltet. Kalt wie die Nacht. Stumpf wie Grossmutters Schere. Heute irrt er nochmals durch die Strassen. Er quält sich durch Bars, er tanzt in Clubs. Niemand begleitet ihn. Niemand kennt ihn. Er ist einsam. Die grosse Stadt hat ihn verschluckt.

Er verpasst die U-Bahn. Er raucht eine Zigarette. Er studiert den Zonenplan. Er löst kein Ticket. Er rebelliert. Junge Mädchen queren seine Blicke. Er beobachtet ihre Strümpfe. Er inspizierte die geputzten Schuhen. Er fantasiert die Mädchen nackt und wild. Geile Miezen, die enthemmt und empfänglich sind. Die U-Bahn bremst.

Er reist einige Stationen. Das städtische Ausgehviertel erwartet ihn nicht. Niemand erwartet ihn. Neonlichter, bezahlbare Frauen, lärmige Bars zieren die Strasse. Autos kurven und hupen. Junge Menschengruppen kichern und protzen. Alt und jung lallen. Die Nacht verspricht allen alles. Die Nacht erlöst, überwindet den Alltag.

Die erstbeste Bar betritt er. Er setzt sich an die Trese. Er bestellt ein wässriges Bier. Den obligaten Jägermeister spült er hinunter. Er dreht sich um. Hintenlinks knutscht ein junges Paar. Hintenrechts langweilt ein Männerabend. Er blickt zurück ins Glas. Sein Natel vibriert nicht. Er liest in seinem Buch. Alle dreissig Sekunden unterbricht er mit einem Schluck.

Das erste Bier ist leer getrunken. Was nun? Weiter in die nächste Bar? Ins Puff? Wieder nach Hause? Was verspricht die Nacht? Er bestellt das nächste. Erneut ein Jägermeister. Er liest weiter. Spannende Lektüre. Döblins Alexanderplatz. Knapp hundertjährige. Eine vergleichbare Epoche, denkt er sich kurz. Das zweite Bier ist ergebnislos leer.

Er verlässt die Bar. Er lungert weiter. Die Massen bevölkern die Strassen. Die Menschen werden lauter. Sie schwanken mehr und mehr. Die Lichter und Leuchtreklamen werden intensiver. Er wendet sich mehrmals; zurück und links und rechts und wieder vorwärts. Verfolgt man ihn? Vermutlich nicht. Niemand beschattet ihn.

Er stoppt hin und wieder, glotzt in die Bars. Er kann sich nicht entschieden. Soll er gehen oder nicht? Soll er warten? Worauf wartet er? Wonach sucht er? Er kann es nicht beantworten. Er kauft ein Mitnahmebier. Dosenbier. Im Zweifel ein Bier mehr. Er schlürft. Es schäumt. Das Bier unterkühlt ihn. Er raucht und taumelt weiterhin.

Die stadtbekannte Datingbar. Diesmal ist er fähig. Er versteckt sich Vornelinks. Bei der Bedienung ordert er einen Cocktail. Standesgemäss, meint er. Er lehnt sich zurück. Er erfasst den Raum. Sieben Dates zählt er. Blinddates. Die Menschen scheuen sich. Sie sind nervös. Sie wollen anbandeln. Sie begehren Nähe. Sie wollen sich verlieben.

Es wird misslingen. Davon ist er überzeugt. Es wird misslingen. Die Menschen können sich nicht verlieben. Sie müssen sich selber optimieren. Eine Partnerschaft belastet bloss. Der Cocktail ist geleert. Nochmals bitte, verkündet er selbstbewusst. Die Toilette verschiebt seine Feldstudie. Ein Pärchen knutscht aufm Nebenklo. Die Frau stöhnt, leicht hörbar.

Ein Reissverschluss wird geöffnet. Mann oder Frau? Er kann es nicht bestimmen. Er spült und reinigt die Hände. Wieder hoch. Die schnelle Liebe aufm Klo beglückt ihn. Immerhin der Sexualität noch fähig und willens, beruhigt er sich. Solange die Geburtenraten positiv sind, muss nichts besorgen. Die Nation wächst weiterhin. Perfekt.

Cocktail erneut. Allmählich ist er angeschwipst. Er mag nicht mehr lesen. Er schliesst die App. Doch was nun? Er mag nicht Menschen begaffen. Im Zweifel mehr Alkohol. Ein Shot, intensiv, kurz und schmerzhaft. So wie das Leben. Möglichst eklig. Ein kleiner Sadist. Er verdoppelt die Portion. Nochmals bitte. Er möchte sich vergessen.

Ein Cocktail und sechs Shots später muss er nicht mehr nachdenken. Unterwegs zum Herrenklo stürzt er. Es schmerzt nichts. Alkohol betäubt. Er pinkelt an seine Hose. Er kann nicht mehr gerade stehen. Das bekümmert ihn nicht. Die putzige Bedienung erinnert ihn, gewisse Haltung zu wahren. Er verliert jede Haltung und missachtet das ungeschriebene Gesetz.

Wer sich zu offensichtlich ersäuft, den vertreibt man rasch. Den will man nicht sehen. Weil er erinnert bloss an die Fragilität der Trinkkultur. Jetzt noch ein Held, morgen ein Absturz. Ein Seiltanz. Er ist nun eine unerwünschte Person. Er muss das Lokal verlassen. Er hat es übertrieben. Obwohl er nichts tat, nichts Schlimmes. Keine Randalen provozierte.

Er torkelt hinaus. Wieder auf der Strasse. Weiterhin kalt und dunkel. Die allgemeine Stimmung erlangt einen Höhenpunkt. Er ist aber nicht mehr auf der Höhe. Er verpasst die Stimmung, das Zeitfenster der Optionen. Er hat sich zu früh verabschiedet und abgeschossen. Er ist nicht mehr gesellschaftsfähig, alltagstauglich.

Wohin? Und vor allem wozu? Was motiviert ihn? Die Einsamkeit geiselt ihn zwar. Aber er ändert nichts daran. Er will sich nicht bessern. Er ist ein einsamer Wolf. Darin gefällt er sich schliesslich. Abends durch die Strassen zu schlendern, nicht wissend, wohin und wozu. Keine Bekanntschaften zu beginnen. Nichts zu treffen. Alles zu vergessen. Rhythmisch.

Er möchte heimlaufen. Er möchte nicht mit der U-Bahn fahren. Er möchte die Strassen spüren. So irrt er weiterhin. Das Vergnügungsviertel liegt bereits einen Kilometer rückwärts. Nun kreuzt er Wohnquartiere, Büroquartiere, gemischte Quartiere. Einen Fluss passiert er. Er pisst von der Mitte herunter. Er grinst kurz.

Ein Automat tröstet ihn mit Süsswaren. Weiter geht’s. Immer vorwärts, niemals rückwärts. Er nähert sich seinem Viertel. Bald erreicht er seine Strasse. Seine Strasse ist leer. Keine Anwohner flanieren. Keine Autos parkieren. Alles schläft. Alle Pärchen verwöhnen sich daheim. Vielleicht auch im Bett. Er partizipiert nicht. Er ist ausgestossen.

Er entsichert die Türe. Er fällt aufs Sofa. Er streift sich die Schuhe ab. Er deckt sich mit seiner Jacke zu. Er aktiviert den Fernseher. Er vergiftet sich mit Nazi-Dokumentationen. Die vergessene Front im Norden, so fühle er auch. Er ist die vergessene Seele. Bestellt, aber niemals abgeholt. Verpflanzt, aber nicht gehegt. Er fristet.

Wie lebt man abgestumpft?

Stumpf ist Trumpf! So singt ein Klassiker des deutschsprachigen Hip-Hops. Das Wortspiel bezeichnet unsere Gegenwart. Wer stumpf ist, triumphiert. Wir müssen uns abschotten. Gefühle können uns verstören, beeinflussen, irritieren und schliesslich verletzen. Daher verstumpfen wir, aber selbstgewählt. Damit wir unsere Gegenwart bewältigen können.

Unsere Beziehungen sind ökonomisiert. Wir befreunden uns bloss, wenn wir einen Vorteil wissen. Wir hoffen und erwarten spätere Gefälligkeiten. Jede Beziehung ist ein Tausch. Dort, wo wir mehr geben als erhalten, dort verabschieden wir uns früher oder später. Wir sorgen uns um Ausgeglichenheit. Verständlicherweise wünschen wir das Maximalprinzip.

Wer nicht riskiert, gewinnt aber nie. Wer stets kalkuliert, verrechnet sich irgendwann. Weil das missgünstige Verhalten, das falsche Verhalten schliesslich auffällt. Ebenso dosieren wir unsere Gefühle. Wir können nicht überschwänglich lieben oder Liebe empfangen, weil wir in Abhängigkeit geraten. Weil wir verletzbar werden. Wir sind nicht mehr autark und autonom.

Denn plötzlich beeinflusst ein Mensch unser Glück, unser Leben. Er formt, prägt mit. Das können wir mit dem Ideal eines beherrschten und vor allem herrschenden Ichs nicht vereinbaren. Wir wollen uns nicht ohnmächtig und ausgeliefert fühlen. Obwohl wir ohnehin ohnmächtig und ausgeliefert sind, im globalen und vor allem kosmischen Kontext.

Wir betrügen und belügen. Wir können nicht zugeben, dass wir jemanden vermissen. Wir wollen uns nicht blossstellen. Wir wollen nicht offenbaren, dass wir streicheln und schmusen und kuscheln wollen. Wir schreiben nie, dass wir jemanden vermissen. Wir verheimlichen gewichtige Details der Vergangenheit. Wir besprechen keine Konflikte.

Wir wollen einfach unbeschwert geniessen und glücklich funktionieren. Daher vertiefen wir keine Beziehungen mehr. Beziehungen verursachen Stress, sie belasten uns stets. Weil Beziehungen gestalten uns mehr als wir eingestehen können. Schliesslich vereinen, kombinieren wir mehrere Lebenswirklichkeiten. Das provoziert stets Krisen.

Wir verkümmern emotional. Wir begrenzen unsere Beziehung künstlich. Wir verknappen die Intensität. Die hohe Verfügbarkeit anderer Geschlechtspartner unterstützt und vereinfacht das Verhalten. Wir müssen nichts mehr investieren, weil wir jederzeit alles aufbrechen und eintauschen können. Die Beziehungen sind nicht mehr final oder total charakterisiert.

Der Zeitgeist vernichtet die Liebe. Das Lebenskonzept der totalen und finalen Liebe ist erschöpft. Auch unsere beruflichen Kontakte vermehren wir bloss, aber erlangen nie eine Tiefe oder eine unaussprechliche Vertrautheit und Geborgenheit. Wir verkünden die Schnelllebigkeit, wechselnde Partnerschaften sind die Folge. Affären versüssen.

Endlich besorgt uns das Elend der Mitmenschen nicht. Endlich können wir auch Auschwitz ignorieren. Wir können die überschiffenden Flüchtlinge ausblenden. Wir können ferne Bürgerkriege vergessen. Stumpf ist Trumpf. Wir müssen nichts rechtfertigen. Nichts kann uns fortan belasten. Wir weinen nicht. Wir sind glücklich.

Die Politik schlägt zurück

Die Politik triumphiert. Ein Cäsar im spenglersche Sinne siegt über das wirtschaftliche Kalkül. Denn die Politik hat seit 1991 sich als Dienstleister der Wirtschaft erübrigt. Die Wirtschaft diktiert seither die politische Agenda. Den einfachen Mann beschäftigen jedoch andere Themen. Aber er konnte nicht wirken, weil er ohnmächtig geworden ist.

Der einfache Mann ist machtlos geworden. Die undurchsichtige, nebulöse und vertrackte Welt beherrscht niemand. Der einfache Mann beherrscht nicht einmal sein Ich. Wir sind getrieben, wir sind abhängig. Wir können bloss reagieren statt regieren. Allein der Zauber der Politik, der Zauber eines autoritären und entschlossenen Cäsars kann begeistern.

Ein Artikel in der ZEIT ermuntert mich, Spenglers Reden auf verlorenem Posten zu studieren. Die Politik rebelliert. Die Politik schlägt zurück. Eine erste Indikation lieferte die Schweiz, hier bestätige ich Somm in der BAZ. Unsere Demokratie ist einigermassen ausgeglichen, sie ist noch politisch und zielt aufs Gebaren des einfachen Mannes.

Ich will keine historischen Parallelen ziehen. Unser Zeitgeist ist einzigartig. Unser Weltsystem kann niemand voraussagen. Wir können bloss das grosse Unbehagen der schweigenden Mehrheit beobachten. Eine Mehrheit, die sich abgetrennt fühlt. Die sich ausgeschlossen fühlt. Die verängstigt und verletzt ist. Die keine Perspektive hat. Keinen Nordstern.

Wir haben keine politische Ideen, politische Ideologien. Wir haben bloss klassische Rezepte, die allerorten aufgetischt werden. Nun sind auch die USA infiziert, auf höchster Ebene. Das Problem ist nun globalisiert. Damit ist es auch offizialisiert worden. Weltweit bespricht man das jetzige Unbehagen. Ob in Schaffhausen oder in Boston oder in Seoul. Alles ist wieder politisch.

Seit 1991 hat sich die Welt vom einfachen Mann entfremdet. Seit 1991 hat sich vieles verändert, vieles ist erfunden und eingeführt worden. Staaten entstanden oder verschwanden. Technologie überrannten komplette Branchen. Die Stars von 1999 existieren bereits nicht mehr. Die zwischenmenschliche Beziehungen haben sich verkleinert.

Wir sind einsamer, leerer geworden. Wir fluchen darüber, aber feiern dennoch in verdunkelten Clubs. Wir verschliessen uns im Minimal-Privaten. Die Kleinfamilie idealisieren wir. Manchmal verreisen wir, meinen, wir entdecken fremde Kulturen. Doch die Zivilisation folgt uns stets. Wir können nicht fliehen. Wir sind gefangen. Auch in der Safari Afrikas.

Unser Religiosität ist lächerlich geworden. Manche radikalisieren deswegen Überliefertes, ringen irgendeinen heiligen Krieg. Andere versacken in Sekten. Die letzten beschwören einen unheiligen Esoterismus oder Naturismus. Der Arbeitsalltag tötet schliesslich den letzten Lebenssinn.

Wir schuften für anonyme Aktionäre, wir verrichten sinnlose Tätigkeiten. Wir bürokratisieren unsere Unternehmen. Wir huldigen Prozesse und Formulare. Wir wollen uns stets absichern. Untereinander bekriegen wir uns heimlich, denn letztendlich konkurrieren wir alle. Wir kämpfen nicht bloss mit, gegen Kollegen, sondern auch mit, gegen Einwanderer.

Eine solche Stimmung macht uns empfänglicher. Empfänglicher für einen entschlossenen Cäsar. Dieser überwindet unsere Lethargie. Dieser macht uns wieder gross. Dieser verspricht, dass wir die Wirtschaft besiegen, dass wir die allgemeine Ohnmacht bezwingen können. Wir können wieder handeln. Der einfache Mann hat wieder Männlichkeit erlangt. Keine Frau demütigt ihn mehr.

Doch letztlich zuckt das Politische bloss ein letzte Mal auf. Der Islamismus der jüngeren Geschichte hat zuletzt politisiert. Komplette Rüstungsprogramme, Kriege und Gesetze gründen aufm jüngsten Islamismus. Doch die Wirtschaft konnte sich weiterhin ausbreiten. Der Islamismus gefährdet unsere Zivilisation auch nicht mehr spürbar. An gewissen Peripherien rollen einige Panzer; Flüchtlinge überschiffen nach Mitteleuropa. Nicht sonderlich spektakulär. 

Das Geld beherrscht die Welt. Alle unsere Aktivitäten unterordnen wir der Geldvermehrung. Wir tauschen alles mit Geld. Geld nivelliert und vereinfacht alles. Also überragt das Wirtschaftliche bald wieder. Auch die USA müssen irgendwann Rechnungen bezahlen. Auch sie müssen irgendwie Geld verdienen. Momentan leihen die Chinesen und Europäer noch. Doch wie lange? Die Ressourcen unseres Planeten sind endlich.

Sehr bald muss jemand zu entscheiden forcieren, wer diesen Planeten ausbeuten darf. Wer sich in grünsten und fruchtbarsten Lage sonnen darf. Wer Grenzen verbarrikadieren kann. Wer Agenden tributpflichtiger Staaten vorschreiben kann. Die USA müssen sich zunächst intern stabilisieren. Man erwartet einen neuen Isolationismus wie während der Zwischenkriegszeit. Das könnte Nebenbuhler motivieren.

Aber letztlich müssen wir nichts befürchten. Die Wirtschaft regelt weiterhin unseren Alltag. Wir haben keine vernünftige Ideen, für die es sich zu sterben lohne. Mein Ideal einer Weltregierung verfolge ich weiterhin; eine globalisierte und liberalisierte Weltgesellschaft. Kein Armut; eine ausgeglichene Überflussgesellschaft, keine Nationalstaaten. Kein Geld mehr. Aber ja, diese Vision ist mein Nordstern, es ist leider noch zu früh.

Was beeinflusst uns?

Gewiss soll man sein Glück nicht von der Liebe abhängen lassen. Das wiederholen alle zeitgenössischen Magazine. Aber die Liebe beeinflusst unsere Persönlichkeit. Nicht alleine die Liebe freilich, aber die Liebe wesentlich. Die Liebe verändert uns. Manche Bekannte mögen uns kaum noch wiedererkennen.

Die Liebe vereint zwei Persönlichkeiten. Eine chemische Reaktion. Daraus entsteht eine neue, kombinierte Persönlichkeit. Ein unzertrennbares Paar, das die besten Eigenschaften erbt. Das können wir nicht verhindern, wir können das bloss verzögern. Denn sobald wir uns komplett öffnen, werden wir uns teilen und teilhaben.

Ich glaube, die Gene formen, beeinflussen uns zwar, aber nicht total oder final oder ausschliesslich. Wir starten als leere, aber mit gewissen Informationen überladene Körper. Wir sind nackt, wir sind formbar. Das Umfeld prägt uns fortan. Das beginnt mit den Eltern und endet mit der Liebe. Alle Menschen, die wir treffen, beeinflussen uns.

Doch nicht bloss die Menschen, der reale und natürliche Kontakt stanzen uns. Auch der ganze Kontext, der gesamte Zeitgeist, Weltgeist, alle Medienproduktion, einfach alles gestaltet uns, gestaltet uns aus und weiter. Die Eltern und die Welt erziehen uns. Bloss genetische Defekte behindern, verfälschen mitunter diesen Einfluss.

Wenn man so denkt, ist jeder Lebensabschnitt, jede Liebesbeziehung und jeder Menschenkontakt stets per Default existenziell. Jeder Augenblick verändert unser Leben, entwickelt unseren Charakter. Wir sind mitunter schutzlos. Wir können bloss mit einer selektiven Wahrnehmung den Einfluss einigermassen filtern.

Doch alles können wir nicht beherrschen, kontrollieren. Wir sind somit auch immer ein Produkt unserer Zeit und vor allem unserer Begegnungen. Alle Menschen, die mich umgeben, bearbeiten mich. Ich bin somit euer Produkt. Das Produkt einer ewigen Sozialisierung. Und Krisen erneuern mich.

Die Liebeskrise

Krisen beleben. Krisen erneuern. Auch Liebeskrisen. Zwar unterkühlen sie einen. Sie vergrössern die Distanz, wo früher Nähe war. Sie beschleunigen die natürliche Entfremdung zweier Liebenden. Ich habe etliche Liebeskrisen erlitten. Manche überstanden, andere verloren. Manchmal ist danach alles zerstört, alles erfroren.

Denn man erinnert sich immer an die Worte im Eifer. An Anschuldigungen. Man erinnert sich ans unschöne Gefühl dieser Krisensituation. Man vergisst rasch die schöneren Augenblicken, die man ebenso teilte. Eine kleine Krise kann die Aufbauarbeit von Monaten zertrümmern. Manchmal kann man sich nie mehr arrangieren.

Doch ohne Krisen funktioniert nichts. Die Welt, die Liebe, alles schwankt. Nichts ist beständig, nichts ist konstant und gleichmässig. Das Liebesbarometer ist so volatil wie der SMI. Die persönliche Tagesform beeinflusst die Befindlichkeit, belastet die Konfliktfähigkeit. Manchmal kann ich alles erdulden, manchmal bin ich überreizt, übereifrig.

Jede Liebeskrise verjüngt eine Beziehung. Sie katapultiert die Liebe zurück zum Startfeld. Alles ist möglich. Alle errungenen “Sicherheiten”, das sicher der gegenseitigen Liebe sich wähnen, sind wertlos. Du bist dir nicht mehr sicher. Sicher, ob du geliebt wirst. Sicher, ob du liebst. Sicher überhaupt, ob alles noch Sinn stiftet.

Du musst also wieder von vorne beginnen. Aber dadurch bereicherst du deine Liebe mit zusätzlichen Erfahrungen. Das wiederholt sich in jeder Beziehung; auch nach Jahren. Inwieweit man jeweils zurückfällt, skaliert die bereits fortgeschrittene gegenseitige Annäherung. Manchmal weiter, manchmal weniger weit.

In einer Anfangsphase freilich kannst du sehr weit zurückfallen. Du kannst alle Episoden deiner Liebe repetieren. Du kannst gemeinsame Momente bekräftigen und schliesslich intensivieren. Denn du hast Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt, ähnliche Situationen besser und liebevoller zu meistern.

Du musst nicht höher oder stärker dosieren. Du musst bloss weiterhin Liebe bedingungslos ausschütten. Neugierig und achtsam bleiben. Dich nicht scheuen oder fürchten. Du motivierst dich durch den Alltag. Du kannst einer Krise wegen nicht alles Bisherige vergessen. Du kannst dich stets ans Schöne erinnern. Du musst nicht reduzieren.

Also überqueren wir stets und kontinuierlich Krisen. Wir optimieren und hintersinnen und konstant. Wir können lernen und gewisse Muster brechen. Wir werden uns und unsere Liebe mehr kennenlernen. Wir müssen stets vorwärts blicken und dürfen uns nicht aufhalten. Das Leben ist ein Kreislauf von guten wie schlechten Zeiten.

Der Rücken der Welt

Ich kann nicht bloss in den ewigen Klassikern tummeln. Ich muss manchmal auch ans Zeitgenössische wagen. Die berühmte Houellebecq-Serie beendete ich im Frühherbst. Anschliessend studierte ich Thomas Melles Die Welt im Rücken. Darin dokumentiert Melle seine bipolare Störung. Eine Krankheitsgeschichte.

Ich kann nicht recht final urteilen. Anfänglich war ich unmotiviert. Der übertriebene und offenkundige Wahnsinn Melles ermüdete mich. Wieso sollte ich dessen Irrsinn begleiten? Wieso teilhaben? Schliesslich kenne ich dessen Biografie nicht; wir sind uns nie begegnet. Autobiografisch kann ich bloss, wenn ich mich darauf beziehen kann.

Auch mit Melles Krankheit konnte ich mich nicht identifizieren. Melles Wahrnehmung war ist mir zu verzehrt. Er konnte Wirkliches und Fiktionales nicht mehr unterscheiden. In seiner grossen Manie zertrümmerte er sein Leben. Er wähnte sich im alles entscheidenden Disput mit allen gegenwärtigen und historischen Geistesgrössen. Eklig.

Alles Weltgeschehen, alle Medienproduktion, alles Geschriebene oder Gesagte, ob aktuell und jemals dargelegt, referenzierte Melle, so seine Selbstwahrnehmung. Eine grosse Paranoia verschlang ihn, formte und verstörte sein Leben. Er konnte nicht ausbrechen. Erst die späte Medikation beruhigte ihn einigermassen. Sie relativierte alles.

Ich konnte nicht grosse Erkenntnisse gewinnen. Nach der Lektüre bist du weder reicher noch erfahrener. Du hast bloss einige Stunden deiner Lebenszeit mit einer Krankheitsgeschichte vergeudet. Melle wollte nichts erklären oder begründen. Melle konnte bloss beschreiben und erzählen: seine persönliche Geschichte, die ohne Weltbezug ist.

Er ist kein Resultat einer gescheiterten Generation, einer verlorenen Gesellschaft. Er ist einfach krank. Er kann nichts delegieren. Die Krankheit hat er nicht einmal selber zu verantworten. Kein Drogenexzess verursachte die Krankheit. Die Krankheit hat er geerbt; ein natürlicher Defekt, vom Leben gestraft und ohne Schuld. Das ist hart und auch manchmal langweilig, weil alltäglich.

Als blosse Krankheitsgeschichte überzeugt, ja begeistert Melle. Als Literatur enttäuscht er aber. Die Geschichte ist die seine, sie ist noch nicht abgeschlossen. Sie lebt in seiner realen Figur fort. Er kann jederzeit zurückfallen. Vermutlich kann er die Krankheit niemals überwinden. Mit Lithium kann er einigermassen funktionieren. Immerhin.

Wer sadistisch ist oder sich fürs Elend und Scheitern einer wildfremden Person entzücken kann, empfehle ich jede Seite. Denn alleine die Sprache ist gewaltig. Daran “scheitert” Melle nicht. Manche Referenzen schmeicheln auch den Bildungsbürger. Diese versteckten Zitationen. Sie ironisieren und distanzieren Melle zuweilen. Das entspannt alles.

Trumps Siegesrede

Der Mann der Tat, der einfache Mann vom einfachen Manne gewann. Bald krönt er sich selber zum neuen Cäsar. Bald postuliert er sein 100-Tage-Programm. Hoffentlich verweicheln ihn die bürokratisch-politischen Strukturen Washingtons nicht. Sonst muss er seine Wählerschaft betrügen. Willkommen Trump.

Ich begrüsse Trump ausm sicheren Hafen der Schweiz. Die nervösen Investoren überbewerten bald den Franken. Unsere Exportindustrie klönt, die Einkaufstouristen freut’s. Wir haben einen Logenplatz reserviert. Wir können das Spektakel aus sicherer Distanz bespannern. Wir müssen uns nicht fürchten.

Manche Politiker hierzulande mögen jubeln. Die Weltwoche muss donnerstags eine grosse Hymne an Trump liefern, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren. Die NZZ muss die wirtschaftlichen Chancen auskundschaften. Der Tagesanzeiger darf einen Stadt-Land-Graben öffnen und das Scheitern der dortigen wie hiesigen Linken diskutieren.

Die Reaktionen sind absehbar und determiniert. Vorerst ändert sich aber nichts. Ob Trump wirklich eine Nato auflösen oder auflockern kann, bezweifle ich. Hinter jeder politischen Entscheidung verbergen sich Interessensgruppen, Einflüsterer und Berater. Sie sind Ehda-Kosten; sie bevölkern ohnehin die Kapitale und sind das Establishment.

Ob Trump sich durchsetzen mag, wird sich zeigen. Die Institutionen können ihn zähmen. Darauf spekulierten damals auch eine Schweiz mit Blocher oder ein greiser Generalfeldmarschall von Hindenburg mit Hitler. Gewissen Parallelen kann man folgen, andere abtun. Wir sollten zunächst den Effekt abwarten.

Ganz gewiss werden sich Satiriker allerorten freuen dürfen. Sie erhalten vier Jahre lang eine ideale Witzvorlage. Gratis und hochverfügbar. So wie früher der besonnene Berlusconi oder zuvor der begabte Bush. Man kann wieder lachen. Der Hipster Obama konnte sich ja bloss ironisieren und Hillary ist nicht zum Lachen.

Was sind Trumps nächste Schritte? Hier können wir bangen. Kann er Hillary wirklich verhaften und einsperren? Kann er die freie Rede kastrieren? Kann er Freihandelsabkommen sistieren? Kann er einen Triumphbogen errichten? Ich glaube nicht. Trump wird symbolisch regieren müssen. Er muss Kompromisse bilden.

Das sind immer noch die USA und kein Russland, kein China, kein Syrien. Trump kann nicht als König thronen und alle Macht und Entscheidung in sich vereinen. Seine Partei verachtet ihn, seine Wähler können sich kaum selber ernähren. Er hat keine Lobby, er hat keine Prominenz. Er hat nichts, bloss sich selber. Er ist ein soziales Experiment.

Wieweit das Experiment glückt, werden die nächsten vier Jahren weisen. Ich bin gelassen. Ich möchte heute noch keine Probleme ausdiskutieren, die jetzt noch nicht akut sind. Wir müssen aber wachsam bleiben. Wir dürfen ihn nicht unterschätzen, aber auch nicht überschätzen. Trump kann nämlich sehr rasch vereinsamen, so wie bereits im Wahlkampf.

Der pendelnde Arbeitsalltag

Olten. Grau. Du radelst zum Bahnhof. Du frierst. Dein Fuss schmerzt. Du humpelst. Deine Frisur ist verweht. Deine Nase tröpfelt. Dein Kaffee wärmt dich. Du erwartest den Fernverkehrszug. Du rauchst. Du musterst die Passagiere. Du steigst ein. Der Zug durchfährt einen Tunnel. Der Zug rast durchs Mittelland. Bald betrittst du die grosse Stadt.

Ich pendle. Ich pendle zwischen Lebenswirklichkeiten. Der Winter beansprucht deinen Körper. Du verschleisst rascher und schneller. Dein Körper zerbricht eher. Momentan bin ich angeschlagen. Die Schmerzen stammen aus Brüssel. Ich quäle mich durch den Alltag. Ich kann mich nicht mehr elegant fortbewegen. Ich höre Wagner.

Ich möchte mich wegsperren. Ich möchte meine Füsse hochlagern. Ich möchte mich wärmen. Ich möchte lesen. Doch die zeitgenössische Literatur reizt und fasziniert mich nicht. Der Norweger Karl Ove Knausgard langweilt mich mit seinem Liebesleben. Ich werde das Buch bald archivieren. Und stattdessen Klassiker wiederentdecken. Keinen Plan.

Mein Hals ist verschleimt. Ich huste im überfüllten Waggon. Die Mitpendler beargwöhnen mich. Nebenan besprechen Welsche Naturprojekte. Sie sind engagiert. Eine Teilzeitangestellte sammelt virtuelle Bälle. Ein gealterter Geschäftsmann studiert Excel-Formeln. Ein schnieker Jungmanager formuliert Emails mit grossen CC-Verteiler.

Bald bin ich wieder nützlich. Ich grüsse meine Kunden im Büro. Ich versinke in meinem Stuhl. Ich prüfe die gestrigen Performanz. Ich konsolidiere meine Besprechungsnotizen. Ich bereite mich vor. Ich empfehle Verbesserungsmassnahmen. Ich rauche. Ich gucke ausm Fenster. Ich beobachte das Eichhörnchen. Ich trinke Kaffee. Ich huste.

Nochmals Brüssel

Ich weilte erneut in Brüssel. Diesmal stürmte eine kleine futuristische Vereinigung die Stadt. Wir standen kurz vorm Endsieg. Doch eine neuere Dolchstosslegende verhinderte uns. Wir mussten abreisen und den Alltag empfangen. Anlass für eine kleinere Reflexion, willkommen.

Brüssel faszinierte mich bereits im Sommer. Damals platzte der Brexit die schöne EU-Blase. Ein EU-Babylon. Ich war irgendwie dort und gleichzeitig irgendwie nicht. Brüssel sei das neue Berlin, wiederholte ich mich stündlich. Alle guten Sachen beginnen mit B: Berger, Bier, Burger, Busen, Büsi und eben Brüssel. Sei’s drum.

Welche Sehenswürdigkeiten konnte ich abhaken? Keine. Ich war schon zweimal in Brüssel, aber irgendwie habe ich nichts gesehen. Freilich schlich ich ums Europa-Quartier herum. Mein Gastgeber wählte eine fast identische Route. Katerig, modrig und verletzt irrten wir durch die Stadt. Auf der Suche nach Bier und Burger.

brussels-parlament

Wir waren zu fünft entdeckend. Fünf Futuristen. Alle entschlossen. Wir wagten uns in eine grosse Stadt. Grösser als eine Nacht in Olten. Aber mit demselben Ausgang. Wir überraschten niemanden. Wir spielten unser Programm. Mit grossem Erfolg zwar. Wir wurden aus fast jedem Lokal gekickt. Sogar aus einem privaten, mehr oder weniger.

Wir tranken. Und tagsüber lagen wir herum. Isotonische Getränke stärkten uns morgens. Eine Marihuana-Zigarette für den einen oder anderen. Als endlich eingedunkelt, durften wir wieder offiziell saufen. Bier, Wein und Schnaps. Alles natürlich durcheinander und wild. Zwischendurch tanzten wir. Wir plauderten mit Journalisten.

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Mich beeindruckte vor allem ein Korrespondent der USA. Ein gepflegter, gut gekleideter Amerikaner. Aber mit einem Alkoholproblem offenbar, denn er trank nicht. In Vergangenheit hatte er wohl sich verausgabt. Das ist menschlich, das ist sympathisch. Manchmal muss man sich kurzzeitig disziplinieren und aufs Wichtig-Dringliche fokussieren.

Etliche Fotos beweisen unsere Anwesenheit. Sie dokumentieren unseren gemeinsamen Exzess. Der allerdings einigermassen gesittet war. Wir haben nicht masslos übertrieben. Wir hatten den Endsieg schliesslich doch nicht errungen. Wir blieben stets eingespurt, eingerastert. Alles war einigermassen kontrolliert und beherrscht.

Wir altern. Würdevoll, aber dennoch altern wir. Wir haben unsere Rückzugsräume geschaffen. Wo wir gelegentlich einbrechen, um auszubrechen. Doch wir funktionieren weiterhin. Montags ist alles vergessen. Manche Schmerzen erinnern einen noch. Aber grundsätzlich ist Brüssel überstanden. Man kann wieder arbeiten.

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