• Ich an Apéros

    Mein Beruf erfordert, dass ich gelegentlich mich austausche. Leider keine Körperflüssigkeiten. Nein, ich darf mich sozialisieren. Ich darf netzwerken. Ich darf mitreden. Fünf Personen zwängen sich um einen Apéro-Tisch. Lachsbrötchen, Käsebrötchen, Schinkenbrötchen, Gemüsestangen sind angerichtet. Jemand lenkt die Diskussion. Die umliegenden vier nicken. Der eine toppt, der andere floppt. Der Rest schweigt.

    dbe-apero

    Ich mag nicht netzwerken. Kraft meiner Rolle bin ich aber verpflichtet. Ich muss. Ich nenne es sogar Arbeit. Also benehme ich mich, als ob ich arbeite. Ich heuchle Interesse. Ich kommentiere gefällig und berechenbar. Ich lasse ausreden; ich empfehle nichts. Ich höre bloss. Denn ich darf kraft meiner Rolle mich nicht in den Vordergrund drängen. Mich nicht überhöhen.

    Ich habe mir mittlerweile einen Fragekatalog erarbeitet, der einigermassen mich sicher durch den Abend rettet. Es sind keine existenziellen Fragen, mit denen beispielsweise die geschätzte M. mich locken kann. Ich will nicht den Sinn des Lebens wissen. Mich interessiert auch nicht, welches Ereignis meinen Apéro-Partner am meisten beeinflusste. Ich erkundige mich bloss, wie derzeit die Rolle des Projektleiters im Kontext der agilen Transformation herausgefordert ist.

    Also harmlos. Und harte Arbeit. Meine Arbeit ist darin, einerseits mich nicht zu betrinken. Weil sonst werde ich über Themen witzeln, die nicht konform sind. Und andererseits mein Interesse zu dosieren. Ich darf nicht zu interessiert sein; ich muss ja locker und cool mich distanzieren. Denn sonst klammert sich der Gesprächspartner, der ja ebenso verloren ist. Dennoch muss ich gewisses Interesse wahren, damit das Gespräch überhaupt rollt statt stockt.

    Mühsam. Diese Woche darf ich dreimal Apéro simulieren. Dreimal einen unterschiedlichen Kontext. Einmal im Hauptquartier meines Arbeitgebers im Kreis 1, einmal an einem Fachkongress und einmal als Alumni. Mit allen diesen Menschen teile ich gewisse Interessen, ansonsten verbindet einen nichts. Gespräche können sich nicht vertiefen. Hier und da kann man scherzen. Aber im typischen Fachgespräch erfahre ich keine Verbundenheit.

    Andere empfinden anders. Ich kenne Menschen, die können sich hineinsteigern. Die identifizieren sich. Die erblühen. Natürlich kann ich mich auch für gewisse agile Themen begeistern. Aber es ist mein fucking job, das zu tun. Ich bin Berater. Ich verkaufe Ideologien. Also muss man mir nicht verdenken, wenn ich manchmal ermüde. Heute war ich denn auch bloss vermittelnd. Ich habe Menschen einander vorgestellt. Ich habe Gespräche losgetreten. Und dann geraucht und Bier getrunken.


  • Leben ohne Sex?

    Leben ohne Sex ist wie Rauchen mit einer elektronischen Zigarette. Man «raucht» zwar, aber sehr funktional und ohne Emotion wie Leidenschaft oder ohne Spätfolgen oder irgendwelche Risiken. Wir könnten ebensogut nicht rauchen und gänzlich darauf verzichten. Wer ohne Sex lebt, fristet, funktioniert bloss. Ohne Leidenschaft verkümmert der Lebenstrieb. Man gehorcht, man wartet. Ich möchte nicht funktionieren. Ich möchte empfinden und fühlen. Ich möchte Leidenschaft erfahren. Ich möchte mich nicht anpassen. Ich möchte mich nicht routinieren und disziplinieren.


  • Lebenslänglich wartend

    Ich warte. Ich warte auf einen Durchbruch. Auf die Liebe. Manchmal habe ich das Gefühl, ich warte bloss. Ich vertreibe mir die Zeit mit Alkohol und Arbeit. Aber ich warte. Ich warte auf Millionen, auf unendliche Anerkennung und Liebe und viel Sex. Wir alle warten. Auf Schwangerschaft. Auf Eigenmittel fürs Eigenheim. Auf eine Antwort. Auf eine Entschuldigung. Auf eine Kontaktaufnahme. Auf Tinder-Matches. Auf den Lohn. Ich habe unlängst beschlossen, nicht mehr zu warten. Ich erwarte nichts mehr. Ich tue einfach. Ich beschleunige. Ich warte bloss noch auf den Zug, aufs Mittagessen, auf meine Pause und auf den Apéro. Aber auf die grossen Ereignisse im Leben warte ich nicht mehr. Mal abwarten.


  • Was würde meine Kunst bezwecken?

    Ich bin kein Künstler. Ich bin nicht ausgebildet. Aber ich bin kunstaffin. Vor allem, wenn mir Bekannte oder Vertraute Kunst produzieren. Das begeistert mich jeweils. Für anonyme, weltstädtische Kunst kann ich mich aber nicht interessieren. Mir fehlt der Bezug, weil ich keine Biografie habe. Ich muss den Künstler kennen, um dessen Kunst verstehen zu können. Sonst hat’s für mich keinen Sinn. Was würde also meine Kunst ausdrücken?

    Ich plane, zusammen mit L. einen Raum in Olten zu mieten. Jenen Raum, der mich kürzlich inspirierte. Dort wollen wir etwas gemeinsam unternehmen. Eventuell wird’s aufeinander passen, eventuell nicht. L. möchte damit ihr comeback feiern und ihre Reputation als Anti-Künstlerin festigen. Die Vermieterin C. ist die beste Freundin meiner Ex-Ex-Ex-Freundin M., die noch für einige emotionalen Schulden bürgt. Für L. die perfekte Provokation. Für mich eine komische Konstellation. Ich bin ohnehin per Definition ein Unkünstler. Für mich ist’s bloss Spass, quasi ein Hobby. Ich will und muss mich nicht anbiedern.

    Mein Kunst ist autobiografisch. Ich erzähle. Ich möchte den Menschen vermitteln, wie ich mich fühle. Was Wörter wie einsam, verloren, entfremdet und leer bedeuten. Ich möchte meine grosse Irritation, mein grosses Befremden vergrössern, damit diese Begriffe erlebbar-erfahrbar werden. Natürlich möchte ich das ganze als Spektakel inszenieren, damit gleichzeitig ein gewisser Eskapismus funkelt. Klassisches wie Sex, Gewalt, Exzess und allgemeine Trostlosigkeit begleiten meine Kunst, ironisieren meine Kunst. Damit kann sich mich mein Publikum entfernen, abstrahieren. Falls etwas wehtut. Einen leidtut. Quasi eine Exit-Strategie, aber keine Erlösung. Ich befreie niemanden.

    Ich kann mir folgende Objekte vorstellen. Verwackelte Handy-Aufnahmen vergangener Ausschweifungen. Ein Mann in einem Tanga. Wüste Frauen. Umgekippte Gläser. Zerstörte Küchen. Die Bilder billig und rasch ausgedruckt. Klassiker meiner Cloud-Sammlung. Aber natürlich fein kuratiert. Nebenan einige Erlebnisse meiner Rückschläge. Die irrsten Geschichten. Allesamt tragische gewiss. Nebenan aber Geschichten grössten Glücks. Auch dürftige Aufnahmen einer fragilen Zufriedenheit; meine glänzenden Augen beispielsweise. Die Komposition garniere ich mich Zeitgenössischem. Mit Bekennerschreiben.

    Ich denke, Flüchtlinge machen sich auch gut. Sind zeitgeistig. Ich bin darin sogar erfahren. Ich bumse allerdings keine Flüchtlinge. Bin also nicht ganz so intim. Aber ich könnte meine Geschichten prima aufwerten kraft meiner aktuellen gesellschaftlichen Rolle. Ich könnte das alles ausgleichen mit meinen geliebten Bekennerschreiben. Ich bekenne mich für die Armut. Ich bekenne mich für den Hunger. Ich bekenne mich für die Unterdrückung irgendwelchen Minderheiten. Für die Bürgerkriege Jemens oder Syriens.

    Und schliesslich der Amoklauf. Prominent. Ich bekenne mich für alle Amokläufe dieser Welt. Ich werde einen konkreten skizzieren. Als unfertiges story board. In Olten. Den Protagonisten enthülle ich. Den Hintergrund liefere ich. Ich identifiziere die Getöteten. Ich präsentiere den Schauplatz. Ich müsste bloss den Raum narrativ-stringent formen. Wegweiser postieren. Dem Besucher einen Weg aufzwingen. Ihn begleiten. Diese Entwicklung eben erlebbar-erfahrbar gestalten. Oh wie schön.

    L. und ich würden den Raum einige Wochen mieten. Diese Zeit investieren wir für unser Werk. Das irgendwie zusammenpasst, wenn’s glückt. Wir werden eine Vernissage und Finissage gleichzeitig organisieren. Alle Informationen auf einen Abend verdichten. Den Abend möchte ich mit Shots unterstützen. Ich werde keinen Orangensaft ausschenken-verschenken. Wer die Härte erfahren will, muss sich betäuben. Eintritt nur für Verrückte. Ich möchte Rauch, ich möchte Nebel. Ich möchte uns vernebeln. Damit wir nicht klar erkennen können. Also darf und muss geraucht oder gekifft werden. Konzept halt.

    Ich werde dieses Konzept mal mit der L. verifizieren. MVP-mässig.


  • Friedvoll kunstfertig im Oltner Tattarletti

    Ich distanziere mich vorm gesellschaftlichen Leben. Hier und da unterwandere ich eine Party, betrinke mich, lalle und zahle Lokalrunden. Manchmal muss ich bloss beweisen, dass ich noch überlebe. Ich überrasche dann ehemalige Bekannte, dass ich immer noch in Olten weile. Und nein, dass ich nicht nach Zürich ausgewandert sei. Nichtsdestotrotz, kürzlich besuchte eine Vernissage und Finissagge zweier Künstler. Der eine war mir vertraut, der andere nicht. Hier meine Besprechung.

    Kunst beansprucht nicht, einem konkreten use case umzusetzen. Kunst braucht keinen Anwendungsfall. Kunst muss sich nicht bemühen. Dem trotzend mieteten die beiden Herren das Tattarletti. 100.- CHF für eine zwischengenutzte Liegenschaft, bevor im 2017 auch dort ein obligater Döner eröffnet und die Dönermeile Oltens triumphierend vervollständigt. Dass überhaupt Kunst «passiert», hat niemand registriert. In den letzten zwei Wochen haben die beiden Herren den Raum belebt. Ich habe weder den einen noch den anderen jemals angetroffen. Das stört nicht.

    DBE-Raum-Leer

    Als ich den Raum betrat, suchte ich nach Kunst. Doch eigentlich hatte ich nichts erwartet. Ich sehnte mich nach Leere oder wildem Sex oder nackten Puppen. Der Raum schien entrückt-entvölkert. Einige mit Wasser gefüllten Plastiksäcke hingen an der Decke, manche mit Wasserpflanzen verziert. Hier und da waren eine Bilderrahmen platziert. Der Mensch als Kunstwerk. Eine projizierte Aussenwand konkurrierte mit einfacher Lokalwerbung. Miniaturisierte Skizzen waren an die Wände gepinnt. Das war’s. Die Glasfront war noch verschmiert, okay.

    DBE-Raum-Glasfront

    Die Glasfront soll das Geschehen spiegeln. Konturen parkenden Autos, Umrisse sitzender Menschen. Das liess sich gut und gerne abzeichnen. Manchmal blosse Geschwindigkeit, manchmal die Welt verkürzen, verlängern oder verzerren. Die Glasfront reflektiert. Sie schützt auch. Sie bewahrt die Insassen vorm Irrsinn der Aussenwelt. Sie begrenzt, dosiert den Einfluss der Aussenwelt. Alles dies zeigt sich an der bemalten Glasfront. Die Kunst ermutigte den Passanten als Akteur, sich an diesem kollektiven Werk zu beteiligen. Der Penis ist und bleibt das beliebteste Motiv, das niemanden erschöpft. Es passiert halt einfach.

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    Die Kunst rechtfertigt alles. Einem Stuhl in einem leer-klaren Raum attestiert die Kunst, er versinnbildliche die unaufgeforderte und nicht abgeholte Einsamkeit des Menschen unserer Zeit. Wir können alles mit Sinn aufladen. Aber ebenso mit Unsinn. Barbusige Gummipuppen, mit blutenden Öffnungen und /b/-konformen, weil imperativen Sprüchen, die die wie Hühner in «Fredy’s Fressbude» an der Autobahnraststätte Gunzgen Süd grillen. Das wäre kein Unsinn. Es würde bloss ans Unrecht der Frau erinnern. Und das wäre okay. Darüber könnte man berichten, schreiben. Darüber würde man erzählen und sich vermutlich auch erinnern. Ein ferner weltstädtischer Rezensent könnte es dann aufgreifen.

    Der Zufall ist als schöpferische Kraft anerkannt. Zufallskunst ist popularisiert. Wenn Zufallskunst etwas aussagt, dann ist’s halt Zufall. Glück oder Unglück eines Künstlers. Kein übergeordneter «Plan» hält solche Kunst zusammen. Sie entsteht und vergeht, durchlebt konjunkturielle Launen. Was haben also unsere beiden Herren bewerkstelligt? Wie solle ich das nun einordnen oder bewerten? Schliesslich habe ich bloss das Apéro weggesoffen und einen Aschenbecher vollgeraucht. Manchmal superironisch über mich gewitzelt und mit L. ein eigenes Kunstprojekt proklamiert.

    Ich denke, Dankbarkeit beschreibt mein Gefühl nahe genug. Ich danke. Kunst inspiriert. Wirklich. Ich meine damit nicht tote Museen. Wo Kunst verkümmert, weil man ein Gefühl konservieren möchte. Dort fühle ich mich jeweils abgeräumt. Dort sieche und friste ich bloss. Meine beiden Herren haben dieser konservativen Kunst getrotzt. Sie hatten den Raum für einige Wochen bewohnt. Und nichts produziert, dass irgendwie sich als nützlich erweisen könnte. Das ist doch eben geil?! Kunst verschwendet. Verschwendet Lebensenergie. Verschwendet Aufmerksamkeit.

    Aber dennoch reanimiert sie. Ich fühle mich zwar nicht in einem totalen Freizeitpark gefangen, wo man weder rauchen noch trinken darf, aber dafür hinter jeder Ecke von zertifizierten Animateuren bespasst wird. Es ist keine orchestrierte und gesteuerte Animation. Der Effekt der Kunst ist nicht determinierbar. Sie kann inspirieren, sie kann ebensogut verwirren. Wir müssen uns selber auseinandersetzen. Und das ist der grosse Zweck und so. Aber was hat’s nun bei mir bezweckt? Ich habe mich wieder für absurde Kunst begeistert. Vermutlich überdeckt die Begeisterung bloss mein grosses Wohlwollen einem Künstler gegenüber.

    Die gelungene Ausstellung der beiden Herren provozierte mir nochmals Gedanken über Reflexion. Können wir wirklich reflektieren? Können wir wirklich spiegeln? Je nach Perspektive, je nach Lebensabschnitt, je nach Spiegel verfremden wir unsere Wahrnehmung. Wir können uns nie gewiss sein, was wir wirklich fühlen oder denken. Die Gesellschaft diszipliniert uns, dass wir bei gewissen Ereignissen dasselbe nachdenken wollen («Kastriert ihn!», «Schafft sie aus!», «Zeig Titten!»). Doch nicht einmal die Gesellschaft kann das bei allen gleichzeitig sowie gleichmässig einfordern. Wir fragmentieren, zerfransen.

    Meine Selbstwahrnehmung fluktuiert. Morgens nehme ich mich im Spiegel anders wahr als abends. Es ist schwieriger geworden, klar denken zu können. Wir können uns nicht orientieren. Überall verführt man uns. Religionen, Sekten, Ideologien, Theorien, Frauen wollen unseren Geist befreien. Da tröstet mich die Glasfront. Hier kann ich die Perspektive fixieren. Hier kann ich den Abstand wählen. Hier kann die Konturen schärfen oder verwischen. Hier kann mein Ich die Wahrnehmung beherrschen. Hier kontrolliere ich. Später vergesse ich mich wieder.

    Danke.


  • Wie gehe ich mit emotionalen Schulden um?

    Kann man sich überhaupt jemals entschuldigen? Wer kann meine Schulden lasten? Ich habe keinen Gott, keinen Jesus, dem ich etwas anvertrauen kann. Ich muss alles selber meistern. Ich kann auch nicht mein Umfeld damit konfrontieren. Und einen Therapeuten mag ich nicht bezahlen.

    Also was nun? Wir müssen selber verantworten, was wir tun. Ich hadere zuweilen damit. Ich verdränge, was ich tat. Damit ich mich nicht erinnern muss. Damit ich mich meine Schulden vergesse. Ich habe Schulden gehäuft, emotionale. Diese erdrücken mich nun. Ich kann sie nicht abbauen.

    Ich kann nicht einfach schreiben. Damit entlaste ich mich nicht. Ich kann sie auch nicht einfach erzählen. Damit verschwinden sie nicht. Ich muss sie separieren, auseinandernehmen. Ich muss sie ordnen. Ich muss meine Verlustscheine katalogisieren. Hier Nachlässigkeit, dort Trotz, hier Gewalt, dort Exzess.

    Ich habe liebe Menschen verletzt. Menschen, die mir wohlgesonnen waren. Ich habe sie abgelehnt und enttäuscht. Ich habe sie quasi missbraucht. Ich war nicht immer ehrlich. Manche habe ich für einen Lebensabschnitt gequält, manche für Sex. Ich war ein Raubtier. Ich war egoistisch. Ich bereue einiges.

    Doch Reue antwortet nicht. Reue hilft nicht weiter. Reue ist bloss eine Emotion, ein starkes Gefühl. Dessen ich immerhin noch fähig bin. Reue ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist Erklären. Ich muss begründen, untersuchen, wieso ich so handelte. Das erfordert Ehrlichkeit. Das verlangt gewisse Objektivität. Ich bin nicht bloss «Opfer».

    Denn manchmal war ich ein blinder Täter. Blind vor Wut, zuweilen Hass und auch Furcht. Ich fürchtete Nähe. Ich fürchtete Vertrautheit. Das waren die einen gewichtigen Ursachen. Die anderen waren Selbstgefälligkeit und eine unendliche Lebenssehnsucht. Ich fühlte mich denn auch schon missverstanden und gefangen. Missverständnisse halt. Entfremdung.

    Finanzielle Schulden kann man abarbeiten, Ratenzahlungen vereinbaren, Gläubiger kontaktieren, Reue demonstrieren. Emotionale Schulden kann man nicht einfach tilgen. Gläubiger wollen einen nie mehr begegnen. Gläubiger wünschen einen höchstens einen schnellen und qualvollen Tod. Hier kann man nicht telefonieren und Raten versprechen.

    Hier kann man grundsätzlich nichts tun. Gläubiger emotionaler Schulden sind nicht zu besänftigen. Entweder wollen sie einen rächen oder ignorieren. Meistens haben sie Methoden entwickelt, um Wunden zu heilen. Wenn ich nun Jahre später reuig und im Nachhinein klüger auftrete, erfreue ich niemanden.

    Ich kann auch nicht allen einen Brief schreiben. Damit überwältige ich sie wieder. Ich überantworte meine Last ihnen. Das würde denn auch ich mich nicht entsühnen. Also was kann ich tun? Vermutlich bloss in meinem Refugium meine innere Ruhe aushandeln. Ich kann Liebe schenken und Dankbarkeit ausdrücken.

    Aber ich werde den Schmerz niemals lindern können, den ich verursacht habe. Ich kann bloss mein Verhalten ändern, damit ich mein Verhalten nicht wiederhole. Und das bedingt, dass ich mich auseinandersetze. Eben meine Verlustscheine einsortiere, bewerte und kommentiere. Jeden einzelnen.

    Ich habe viel Arbeit vor mir.


  • Wie man den Verstand verliert

    Oh, du fühlst nichts, möchtest weinen, aber kannst nicht? Du trauerst und bedauerst? Doch du kannst nicht entziffern weswegen und worüber? Du sehnst und schmachtest? Aber kannst nicht zielen oder konkretisieren? Dann verlierst du wohl deinen Verstand. Willkommen.

    Ich kann mich derzeit nicht konzentrieren oder interessieren. Ich kann auch nicht einmal diskutieren. Ich reflektiere bloss ganz alleine. Hier. Ich verstumme, sobald man mich anspricht. Er erschauere, sobald ich mein Herz taste. Ich quäle mich selber.

    Ich möchte fliehen, doch ich kann nicht ausbrechen. Egal wohin ich gehen mag, das Unglück überholt mich. Ich fühle mich angekettet. Eine Kette. Ich stosse, wehre mich, aber es bewegt sich nichts.

    Was tröstet mich? Nichts. Wer tröstet mich? Niemand. Ich bin mir selber anheimgefallen. Ich kann nicht entkommen. Ich habe viel Unheil zu verantworten. Ich habe etliche Fehler losgetreten. Ich habe viele Menschen verletzt.

    Ich verletze mich deswegen selber. Ich verliere meinen Verstand. Ich dämmere. Ich wünsche mir nicht den Tod. Ich wünsche mir die Befreiung. Ich sehne mich nach Glück. Wann habe ich das letzte Mal mich selber glücklich gemacht? Es ist ungewiss.


  • Wieso bin ich so unglücklich?

    Glück vergeht. Glück ist fragil. Wieso ich unglücklich bin derzeit, verantworte ich meinen verpassten wie verpatzten Glückschancen meiner unmittelbaren Vergangenheit. Glück zu verspielen, quält mich. Das macht mich unendlich unglücklich. Ich könnte weinen. In der Dusche kann ich jeweils weinen, weil dort bin ich nackt und immer alleine.

    DBE-Leere

    Natürlich muss ich bloss «durchhalten». Irgendwann erlebe ich wieder Glück. Dennoch bedauere ich alles. Ich wünsche mir die letzten acht Jahren zurück. Ich möchte einiges korrigieren. Ich habe viel gelernt. Doch ich erhalte diese Chance nicht zurück. Die letzten Jahren sind vergangen.

    Wenn ich abends wie morgens durch meine Stadt spaziere, den Menschen begegne und etliche begrüsse, empfinde ich grosses Unglück. Kinder lachen, spielen, Paare küssen, schmusen. Gute Freunde diskutierten. Jugendliche trinken, lallen. Ich bin entfremdet von alldem. Ich mag nicht einmal mehr saufen oder masturbieren.

    Gewiss muss ich durchhalten. Ich kämpfe. Ich werde morgen aufstehen. Ich werde niemanden erschiessen. Ich werde arbeiten. Doch das kann mich nicht vollends ablenken. Ich werde weiterhin lesen. Ich werde schreiben, hier rapportieren. Doch meine Augen verraten eine tiefe Enttäuschung.


  • Zürichs Hipster?

    Wieso verlieben wir uns in Hipster? Wieso verlieben sich Frauen in Typen wie David Suivez? Ich habe kürzlich eine SRF-Reportage konsumiert, welche Davids Alltag porträtiert. Ich gestehe, ich bin schockiert. Natürlich kann man mich direkt nicht mit ihm vergleichen; ich bin kein Hipster. Ich bin technisch zu abgefuckt. Aber naja, irgendwie beschäftigt mich das schon.

    Dass Davids Vater wolle, er solle das Wirtschaftsgymnasium absolvieren, rührt mich. Es macht mich betroffen. Weil ich kenne Schicksale, wo kein Vater jemals etwas forderte. Ich mag nicht, wenn die Mittelklasse kokettiert. Wenn die Mittelklasse säuselt, sie hätte alle Optionen und sei überfordert. Und danach trotzig antwortet, jetzt sei man halt Yoga-Lehrer.

    Ich kann Yoga knapp buchstabieren. Mich interessiert Yoga bloss, weil meistens geile Frauen geile Sex-Stellungen nachahmen. Das erregt mich. Ansonsten ignoriere ich Yoga. Ich verurteile aber niemanden, der Yoga praktiziert. Ich bin liberal. Gewiss würde ich auch gerne irgendwelchen geilen Miezen den ebenso geilen Arsch betatschen. Als Yoga-Lehrer ist man legitimiert; als Doppelgänger weniger.

    Das Getue über «Verantwortung» und den tiefen Lebensinn, den David spürt und auch blumig ausdrückt, als er seinen Sohn vor laufender Kamera erzieht, mag ich ebenfalls nicht. Natürlich erfordern Kinder neue Fähigkeiten. Ein Kind erzieht uns mehr als wir das Kind jemals werden. Aber ich müsste nicht so dramatisieren wie David. Irgendwie bin ich voreingenommen. Ich vermute, das ist Davids grosse Masche, um Frauen zu bumsen.

    Die SRF-Reporterin, selber bereits verhipst, war merklich angetan. Sie schwärmte. Zwei-drei kritische Fragen musste sie allerdings durchlassen. Ansonsten könnte man sie verdächtigen. Ihr Mit-Reporter durfte den Hobby-Hipster spielen. Mässig begabt skatete er, präsentierte seinen unförmigen Bart und bot zwischendurch tapsige Sprüche. Schauderhaft.

    Wie reagieren wohl die Menschen Oltens, wenn sie diesen Bericht sehen? Ich kenne niemanden, der sich begeistern liesse. Einige Trotzige gewiss, die vermutlich mich bloss ärgern wollen. Doch vom Herzen, tief und fest, verachten wir ihn alle. Obwohl er nichts Böses oder Schlechtes tut. Man kann ihn wirklich nicht verurteilen.

    Aber es ist irgendwie so falsch, so gekünstelt. So zwangshaft. Aber leider bestätigt der Erfolg ihn. Er fickt regelmässig. Er wird porträtiert. Immerhin. In Olten filmt man bloss B., der ist auch als einziger einigermassen kameratauglich. In diesem Video erklärt B. seine Liebe. Ebenfalls eine SRF-Produktion. Und dort spüre ich mehr Ehrlichkeit, mehr Authentizität.

     


  • Sex auf der Plattform

    Ein weiterer Roman Houellebecqs habe ich überstanden. Diesmal die Plattform. Damit eröffne ich eine weitere Rezension. Die dritte nun. Ich habe noch zwei Bücher vorgemerkt, Elementarteilchen sowie Karte und Gebiet. Diese sind mir auch unabhängig davon von R. empfohlen worden. Dann beende ich meine Houellebecq-Phase und widme mich dem zeitgenössischen Kram Deutschlands und der Schweiz. Wie immer schaue ich mal.

    Also. Die Plattform erzählt die Erfolgsgeschichte eines frivolen Paares, das sexuell sich total entfaltet. Michel, die Hauptfigur, ein leidenschaftsloser, aber sexuell interessierter Beamter, kann mit seiner deutlich jüngeren Partnerin, eine Exponentin der französischen Tourismusbranche, sich vergnügen und austoben.

    In gefühlt vierzig Sexszenen sind Samenergüsse an der Autobahn, am Strand, im Hotel, in der Küche, im Zug, im Dampfbad, im Swinger-Club, im Restaurant und sonstwo beschrieben. Manchmal mit einem Zimmermädchen, manchmal mittels doppelten Penetration. Diese Sexszenen bilden das Grundrauschen.

    Denn sie vermittelt das Glück Michels mit seiner Partnerin. Kein ewiges Suchen, keine Ablehnung. Kein voreiliger Selbstmord, keine Krankheit oder Entfremdung zerstört das Glück des Paares. Sie sind wirklich glücklich. Das Glück ist nicht bloss sexuell, sondern auch finanziell. Michel erbte eine beachtliche Summe, weil ein Rachesüchtiger einer Verflossener seines Vaters derselben ermordete.

    Der Roman thematisiert das Reisen, den Tourismus. Reisen als grosse Flucht ist das grosse Thema. Als grosse Flucht vor der westlichen Zivilisation. Aber die Reisenden können nicht entkommen. Sie können nicht vergessen. Sie können sich auch nicht selber finden oder so. Sie werden bloss noch verdorbener. Das gefällt mir. Ein im Film und Literatur klassisches Motiv.

    Doch grandios ist der Roman, als Michel darin das Geschäftsmodell des reinen und absoluten Sex-Tourismus› vorschlug. Auf mehreren Seiten begründete er, wieso wir diesen Tausch eingehen sollten. Der sexuelle Tausch ist nicht geschlechterspezifisch, so wie ich bereits einmal rasch andeutete. Er ist universell. Durch seine Partnerhin hatte Michel direkten Zugang zur Tourismusindustrie.

    Und mit einem Verschwörer entwarfen sie zu viert das Angebot eines reinen Liebesabenteuers. Das Produkt begeisterte Deutsche, Italiener und auch einige Franzosen. Es war ein Erfolg. Am Höhenpunkt, diesmal aber nicht sexuellen, wollte Michels Partnerin aussteigen und in Thailand sich niederlassen. Zusammen mit Michel.

    Sie wetterte gegen die westliche Gesellschaft, gegen den Westen, gegen die Sinnlosigkeit und Leere unseres Daseins. Also könnte sie ebensogut hier hausen, Sex mit Michel feiern. Und sich von der westlichen Welt abgrenzen. Weder Nachrichten gucken noch Zeitungen lesen. Sie könnte einfach fristen. Sie könnte von Luft und Liebe leben, weil finanziell waren sie beide ohnehin abgesichert.

    Doch eben in diesem Moment, und das empfand ich als «wunderschön», überfielen islamistische Terroristen das Hotel in Thailand. Sie töteten über hundert Menschen. Das gewichtige Opfer war Michels Partnerin, Valérie. Sie starb. Und damit starb auch Michels Welt. Kein Glück, keine Liebe. Nichts mehr hatte er. Er wartete bloss noch auf den Tod.

    Das Ende des Romans erachte ich als geglückt. Besser hätte Houellebecq den Roman nicht abschliessen können. Dieser Übergang von westlicher Zivilisationskritik zum islamistischen Terrorismus ist wundervoll. Beinahe poetisch. Der Roman beinhaltet grosse Kritik. Doch letztlich ist er vor allem ein Sexroman.

    Michel fickt, bumst, lässt blasen und spritzt überall und jederzeit. Das ist beinahe beängstigend. Das kann einen selber relativ frustrieren, wenn man keinen Sex hat. Auch die Idee des absoluten und unverkennbaren Sextourismus› ist sexualisiert durchwegs. Westliche Zivilisationskritik entflammt erst in Valéries quasi Abschiedsrede. Und dann ist sie schon wieder vorbei. Vielmehr kritisiert Houellebecq den westlichen Massen- wie Individualtourismus.

    Hier bin ich auch persönlich betroffen. Ich habe mich kürzlich mit O. unterhalten. Mittlerweile mag er nicht einmal mehr reisen. Das gefällt mir. Weil Reisen löst keine Probleme. Reisen verschiebt sie bloss. O. erkundete bereits als junger Mann exotische Länder. Doch wie viel konnte er wirklich profitieren? Ausser einigen Apéro-Geschichten konnte nichts überdauern.

    Denn die Verzweiflung, Enttäuschung und Ablehnung dieser Welt ist «hausgemacht», «selbstverschuldet». Jeder kann dieses Gefühl laden, jeder kann es spüren und fühlen. Houellebecq begriff das und hat’s für mich passend beschrieben und alles in einer schönen tragischen Geschichte verpackt. Kompliment.