Autor: bd


  • Der Suizid

    Darf die Gesellschaft ein vierzehnjähriges Mädchen schützen, das aufgrund von Liebeskummer todessehnsüchtig geworden ist? Darf die Gesellschaft einer neunzigjährigen Frau das selbstbestimmte Sterben verbieten? Darf die Gesellschaft einer depressiven vierzigjährigen Frau den Selbstmord gestatten? 

    Beim vierzehnjährigen Mädchen tendiert die Mehrheit zum Verbot des Selbstmordes. Bei der neunzigjährigen Frau duldet unsere Gesellschaft den Freitod. Bei der depressiven vierzigjährigen Frau jedoch zweifeln wir. Ein Selbstmord in diesem Lebensabschnitt ist kein Nein zum Leben, sondern ein Nein zum Leiden.

    Empathisch wie wir sind, können wir das Leiden mitfühlen. Wir können verstehen und akzeptieren, dass jemand in der Mitte des Lebens sterben möchte. Als Angehörige wollen wir auch nicht länger ohnmächtig dem Leiden zuschauen müssen. Wir wollen z.B. die vierzigjährige Frau gehen lassen – und sie nicht zum Leiden zwingen.

    Die Gesellschaft fordert, dass wir Todessehnsüchtige unverzüglich melden. Die grossen Kliniken haben Notfallnummer bereitgestellt. Ein Notfallpsychiater kann einen fürsorglichen Freiheitsentzug aufgrund akuter Selbstgefährdung verfügen. Damit gilt der Betroffene vorerst als weggesperrt und somit vor sich selber geschützt. 

    Wir sind ermächtigt, über das Leben und Sterben zu richten. Alle Angehörige dürfen einen Notfallpsychiater konsultieren. Auch ich war schon in einige Ereignisse involviert und habe bereits dieser Nummer gewählt. Habe ich damals diese Person bevormundet? Habe ich selber entschieden, was richtig oder falsch ist? Durfte ich das?

    Ich bin laizistisch. Ich kenne die menschlichen Abgründe, ich glaube, sie verinnerlicht zu haben. Ich kann den Wunsch nach der Erlösung nachempfinden. Ich kann niemandem den Tod verwehren. Ich will nicht darüber entscheiden. Ich könnte niemandem verbieten, zu sterben in dieser Welt. Ich bin ja selber technisch akut und stets suizidal. 

    Allerdings habe ich eine “rote Linie”. Manchmal bin ich emotional diskreditiert. Ich bin nicht ganz unvoreingenommen. Wäre ich bloss neutraler Beobachter, wäre ich emotional distanziert, dann könnte ich noch mehr loslassen. Ich würde den Freitod eines Angehörigen akzeptieren und als Überforderung, Ohnmacht und Kapitulation deuten. 

    Aber bin ich enger verbunden, bin ich emotional aufgeladen und habe bereits viel investiert, dann spüre ich auch den Drang, zu helfen und den Selbstmord zu unterbinden. Weil ich diese Person vermutlich sehr mag oder gar liebe. Ich würde mich zwar zum Sterben anbieten, das Einschlafen begleiten, passive Sterbehilfe quasi. 

    Aber ich müsste innerlich kämpfen und mich überwinden. Ich müsste meine eigenen Bedürfnisse unterdrücken. Ich würde den Selbstmord widerwillig billigen. Ich würde mir sogar meine “Unschuld” oder meine unterlassene Hilfeleistung bescheinigen und absichern lassen wollen. Sicherheitshalber. 

    Eine unterlassene Hilfeleistung bei einer Suizidankündigung ist nicht automatisch strafbar zwar, aber moralisch insbesondere im Umfeld der Betroffenen fragwürdig und bestreitbar. Ich, der den Suizid nicht verhinderte, müsste nachträglich die Angehörigen trösten? Wie fühle ich mich dabei? 

    Mit diesem Soundtrack: 


  • Über die Eifersucht

    Komischerweise habe ich noch nie etwas über die Eifersucht publiziert, obwohl ich mich an zwei Ereignisse erinnern kann, die damals meinen Verstand beinahe ruiniert haben. Vermutlich habe ich das erfolglos verdrängt. Die Eifersucht ist ja auch ein Gefühl, das den meisten Menschen (leider) vertraut ist.

    Eifersucht ist Liebesentzug. Oder zumindest die Ahnung von einem baldigen Liebesentzug. Es ist die Angst vorm Liebesentzug. Oder der Liebesentzug ist bereits eingetreten. Beispielsweise ist der Aufmerksamkeitsspiegel gesunken oder die kleinen Alltagssymbole der Zuneigung und Wertschätzung sind vermindert und/oder verzerrter. 

    Was Eifersucht nährt, sind triviale Ereignisse. Der Partner schützt plötzlich das Natel. Das stimmt anfänglich misstrauisch. Oder bekannte Liebkosungen entfallen. Plötzlich ist die Umarmung oder der Kuss frühmorgens nicht mehr so ganz freiwillig und spontan, sondern gefühlt erzwungen. 

    Die Eifersucht blockiert die Psyche. Plötzlich werden alle Ereignisse im Kontext der Eifersucht gedeutet. Der Partner kehrt später heim als üblich? Eifersucht. Der Partner praktiziert eine Notlüge? Eifersucht. Der Partner verbirgt etwas? Eifersucht. Der Partner ist auf der Toilette am Natel? Eifersucht. 

    Auch ist die Eifersucht immer eine Projektion. Zu welchen Handlungen bin ich selber imstande oder fähig? Könnte ich meinen Partner ebenso grausam, hinterfotzig und kaltblütig verlassen und betrügen? Die Angst vor dem eigenen Verhalten, vor dem eigenen Selbst begünstigt und nährt schliesslich die Eifersucht. 

    Die Eifersucht ist fortgeschritten, wenn man eine Entscheidung forcieren möchte. Ein eindeutiges Bekenntnis zur eigenen Person. Entweder ja oder nein. Man ersehnt die Gewissheit und Wahrheit. Bilde ich mir das alles bloss ein, trügen meine starken Gefühle bloss mich? Oder ist die Eifersucht gerechtfertigt?

    Die Maxime, lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende, motiviert dabei. Einzig die Gewissheit, ob man halluziniert oder eben nicht, kann einen befreien. So verhält man sich automatisch destruktiv. Man überlistet sich selber, man spioniert beispielsweise auf Facebook und protokolliert Bewegungsprofile. 

    In diesem Zustand ist die Eifersucht schwierig zu überwinden. Beinahe die letzte Eskalationsstufe ist damit gelungen. Spieltheoretisch ist die Beziehung danach unberechenbar. Sie ist endlich komplex. Der Partner hat sich vermutlich bereits an die Eifersucht gewöhnt, ist ebenso destruktiv und fördert sie ebenso unterbewusst.

    In diesem Zustand muss eine Partei das Muster brechen. Entweder beschwichtigt der Partner unaufgeregt, erklärt die Handlungen in einem anderen Kontext statt der Eifersucht. Oder der Fühlende akzeptiert die Eifersucht und entwickelt alternative Bewältigungsstrategien, die nicht in der stetigen Konfrontation enden.

    Falls die Eifersucht jedoch sich bewahrheitet, ob selbsterfüllend oder nicht, so sind beide Parteien gefordert, möglichst rasch die Situation zu klären. Die Wahrheit kann vielfach entspannen. Sie könnte sogar die Beziehung wiederbeleben. Sie könnte die Grundlage fürs spätere Vertrauen bilden. 

    Eine einseitig verdrängte und unterdrückte Eifersucht belastet jede Beziehung. Beide Parteien müssen die Eifersucht ausdiskutieren und vor allem “rote Linien” vereinbaren können. Wann bin ich getriggert? Was provoziert meine Eifersucht? Wie kann ich meine Eifersucht verarbeiten? 

    Die meisten Beziehungen jedoch sind oberflächlich und können niemals diese Tiefe erreichen. Stattdessen rumort eine einseitige Eifersucht die Beziehung, sabotiert diese, wo sie kann und minimiert den ehrlichen Austausch auf Augenhöhe. Oftmals ist der Fühlende in seiner Eifersucht auch “diskreditiert”.

    Der Fühlende solle nicht so kindisch sein, solle endlich erwachsen sein, solle endlich wieder funktionieren und sich beherrschen. Mit solcher Argumentation untergräbt der Partner automatisch die Würde des Fühlenden. Der Fühlende fühlt, das Gefühl ist wahr, es ist da. Und es ist zu intensiv, alsdass man es einfach ignorieren könnte.

    Diese Art der Missverständnisse verschlechtern die Beziehung. Diese Art der Missverständnisse können jedoch gelöst werden, indem die eine Partei sich selber eben verzeiht und akzeptiert oder die andere zuhört und versteht und nicht bagetallisiert oder die Eifersucht zurückspielt oder gar alles verheimlicht, was Eifersucht verursacht. 

    Die unausgesprochene oder die nicht angesprochen dürfende Eifersucht ist die schwierigste und schlimmste. Ein Partner, der sie bloss verharmlost, nicht ernstnimmt oder sogar ächtet, riskiert einen Vertrauensverlust. Die vernachlässigte Eifersucht stiftet abermals Eifersucht. Eifersucht ist manchmal auch bloss ein Sehnen nach Aufmerksamkeit.

    Eine verletzte Eitelkeit kann ebenfalls Eifersucht verursachen. Eitelkeit ist eine verbreitete Eigenschaft der neurotischen Menschen. Solche Menschen hängen von konstanten Aufmerksamkeitsdosen ab. Die Dosierung muss stets ausgeglichen sein. Eine kleine Abweichung kränkt die Eitelkeit und hat Eifersucht zur Folge. 

    Diese Eifersucht kann vom Fühlenden selber behandelt werden. Die Selbstauseinandersetzung hilft. Warum bin ich so angewiesen auf Aufmerksamkeit? Warum bin ich so verletzlich? Wie reduziere ich meinen Bedarf an Aufmerksamkeit? Oder können alternative Aufmerksamkeitsquellen kompensieren?

    Die Eifersucht gestaltet eine Beziehung komplex. Dadurch reift die Beziehung, dadurch können sich die Parteien mehr binden. Die Eifersucht ist nicht zwangsläufig destruktiv, sondern kann auch aktiviert werden. Schliesslich beweist Eifersucht, dass man irgendwie abhängig ist. Abhängigkeiten sind gesund in Paarbeziehungen. 

    Weil ohne Abhängigkeit kann kein Vertrauen entstehen. Verletzlichkeit, Schutzlosigkeit – das fördert Vertrauen. Im Augenblick, als der Fühlende Eifersucht zeigt, ist er verwundbar, verletzlich, ganz schutzlos, und damit ganz menschlich. Diese Chance der Verbundenheit aufzugreifen, ist für den Partner geboten.

    Wer die Eifersucht des Partners akzeptiert, wertschätzt den Partner als natürlichen Menschen mit natürlichen Bedürfnissen und Gefühlen. Woher die Eifersucht auch stammt, selbstverschuldet durch Eitelkeit, fremdverschuldet aufgrund Spannungen in der Aufmerksamkeit, sie bildet den Menschen und die Beziehung. Das gilt es zu würdigen.

    Ein Leben ohne Eifersucht ist nicht möglich – es ist jedoch möglich, mit Eifersucht zu leben.


  • Mühsal der Selbstauseinandersetzung

    Der Notstand provoziert die Selbstauseinandersetzung. Zuhause gefangen, isoliert, ohne Kulturindustrie fällt der Mensch plötzlich auf sich selber zurück. Dasselbe Schicksal teilen die Aufgeklärten, Depressiven und Grübler dieser Welt, die irgendwann – meistens zu spät als zu früh – mit dem Nachdenken und Sinnieren unbeholfen starten. 

    Unbeholfen deswegen, weil weder Eltern noch Schule die Selbstauseinandersetzung uns lehrten. Wir alle beginnen mit denselben Unerfahrenheit. Plötzlich, vermutlich allerspätestens mit 40, versuchen wir unser Selbst zu verstehen. Meistens nicht, weil wir wollen, sondern weil wir müssen.

    Entweder sind unsere bisherigen Gegenwartsbewältigungsstrategien gescheitert oder nicht mehr angemessen für die jüngsten Ereignisse. Oder die äusseren Verhältnisse haben sich gewandelt dergestalt, dass wir notgedrungen uns auseinandersetzen müssen, wovor wir stets geflohen sind. Das auslösende Ereignis ist – einmal mehr – irrelevant.

    Jetzt sind wir unbeholfen, unerfahren – und müssen uns auseinandersetzen. Wir müssen reden, Zwiegespräche führen. Plötzlich ist nicht mehr alles ganz einfach, die Leichtigkeit des Daseins ist verflüchtigt. Plötzlich sind alle Gedanken schwer, jede Tat bedenkenswert. Wir zweifeln hier und da. Die Gedanken wiederholen und kreisen. 

    Die Selbstauseinandersetzung ist keine exakte Wissenschaft. Kochbücher, Anleitungen helfen nicht. Sie verunsichern. Die Selbstauseinandersetzung ist, sobald einmal eingetreten, ein immerwährender Prozess und kann nicht storniert werden. Ein Status quo ante kann nicht hervorgerufen werden. Entweder ist man drin – oder nicht.

    Ein Prinzip der Selbstauseinandersetzung ist, dass man selber Bewältigungsstrategien entwickeln muss. Man kann zwar sich inspirieren lassen, doch umsetzen muss man selber. Es ist eine Adoption. Die Bewältigungsstrategien entstehen aus gesammelten Erfahrungen. Wir können unsere Strategien teilen, wir können Mitmenschen teilhaben lassen.

    Doch bewältigen müssen wir unser Selbst selber. Niemand kann das schultern. Auch kein Psychiater oder Heiler. Der Psychiater bietet Hilfe zur Selbsthilfe. Klassische Ausdruckstechniken können unterstützen. Sie entlasten die Psyche, reinigen. Doch sie erzeugen keine neuen Erkenntnisse. 

    Wer bloss ausdrückt, ist irgendwann entleert. Er muss sich wieder frisch stimulieren, wieder dramatisieren – aber ist doch ohne Erkenntnis und Gewinn. Der Ausdruck stärkt die Selbstauseinandersetzung insofern, als man über den Ausdruck reflektiert, man die Botschaften liest und allmählich zu begreifen versucht. 

    Wer also ein ausdrucksstarkes Tagebuch schreibt, soll die Botschaften nicht bloss archivieren, sondern regelmässig interpretieren und stets angesichts jüngster Ereignisse bewerten. Oder wer ausdrucksstark tanzt, soll seinen Tanz aufzeichnen, im Nachhinein studieren und Befindlichkeiten in einen Kontext setzen. 

    Effektive Methoden, den Ausdruck zu begünstigen, sind alle modellhaften. Ob LEGO oder eine sonstige Knetmasse, ob semiformale Visualisierungen oder Graphen mit Kanten und Knoten. Modelle abstrahieren, vereinfachen und vor allem repräsentieren sie. Man kann ein Modell reformen, zerstören, bewusst überwinden. Und man arbeitet mit Hand und Kopf. 

    Es ist stets das Modell, das man betrachtet – und nicht das eigene Selbst. Man kann sich auch distanzieren. Man ist die dritte Person singular. Dadurch kann man ehrlicher, direkter und unmittelbarer interagieren. Man ist authentischer; Selbstbetrug ist minimiert. Und wenn das Modell nicht mehr passt, kann man es entsorgen, ohne die Persönlichkeit zu verletzen.

    Doch auch mit geeigneten Ausdruckstechniken gleicht die Selbstauseinandersetzung einer Hydra. Sobald man aus einer Gedankenspirale entwunden ist, folgt die nächste, die einen erstarrt. Die befreienden Erkenntnisse rücken zeitversetzt nach. Was heute absurd ist, ist in einem Jahr plausibel. Kann man diesen Prozess aushalten? Fraglich.

    Die Selbstauseinandersetzung in letzter Konsequenz ist grausam, schonungslos. Wir sind perfekt ausgebildet, selber uns zu belügen. Die kleine Notlüge sei ganz harmlos, wollen wir meinen. Schliesslich brüskieren wir damit ja auch keine Mitmenschen – bloss uns selber. Das ist doch hinnehmbar? 

    Mag sein, dass eine einzige Notlüge unsere Psyche beruhigen kann. Vielmehr ist es die Summe der Notlügen, die besorgen muss und die Selbstauseinandersetzung insgesamt verunmöglicht. Wer einmal sich selber belügt, kann es mit 50%iger Wahrscheinlichkeit auch ein zweites Mal. Und dadurch verlieren wir uns im Kreislauf des Selbstbetruges.

    Hier irgendwann zu bremsen, das grosse Muster zu brechen, kann einen erschüttern und den gesamten Lebenssinn rauben. Man muss eingestehen, was man verfehlte. Man muss seine komplette Biografie neu klären. Ein grausamer, mühseliger Prozess. Es ist durchaus menschlich, die Selbstauseinandersetzung konsequent zu scheuen. 

    Ich will meine Leserschaft dennoch zur Selbstauseinandersetzung motivieren. Gemeinsam schreiten wir durchs Tal der Tränen und schöpfen Erkenntnis. Die Selbstauseinandersetzung als Prozess verspricht durchaus Zuversicht und Kraft, weil man stets sich nähert. Mögen Rückschläge uns verwirren, doch letztlich ist jede Selbsterkenntnis wertvoll und stiftet Sinn.


  • Warum bin ich so zuversichtlich?

    Ich besitze tatsächlich eine Zuversicht. Ich bin zuversichtlich der Welt gegenüber, dass die Menschheit dereinst vereint sei und nach anderen Werten statt Geld strebe, dass Kriege und Umweltverschmutzungen überwunden seien. Ich zweifle bloss, ob ich diese grosse Transformation einigermassen geistig bewusst miterleben kann.

    Vom Mitgestalten habe ich mich längst losgesagt. Ich bin zuversichtlich mir selber gegenüber, dass ich mich immer wieder anpassen kann, dass ich mein Verhalten den mir zugetragenen Verhältnissen variieren kann. Ich bin nicht bloss ein Verpackungs- und Verdrängungskünstler, ich bin auch ein Verwandlungskünstler und Prototyp.

    Die Verhältnisse kann ich nicht immer bestimmen. Ich wähle zwar meine Freunde, meinen Filter, ich reduziere oder vergrössere meine Wahrnehmung – doch ich kann nicht alles filtern und selektieren. Manche Ereignisse sind verkettet, manche erfüllen sich selbst. Ich bin zuweilen ohnmächtig und ausgeliefert. 

    Allerdings kann ich selber die Ereignisse lesen und einordnen. Ich könnte alles dem strafenden Gott überantworten. Gott müsse mich bestrafen, weil ich unartig, unangepasst oder sonstwie unbequem und verantwortungslos war – was ich auch war und bisweilen bin gewiss. Oder ich kann alle Ereignisse als Bereicherung meiner Persönlichkeit verstehen.

    Alle Ereignisse erhöhen die Komplexität meiner Persönlichkeit. Weil ich stets wieder Muster brechen muss, obwohl ich nicht kann, manchmal nicht will. Weil ich stets mich anpassen und umschulen muss. Ich bin zwar oftmals reaktiv, ich lerne bloss durch die Retrospektive statt Prospektive. Aber ich sammle durch jedes Ereignis neue Erkenntnisse. 

    Technisch könnte ich mich zurücklehnen und beobachten, was mir passiert. Ich muss nichts fürchten. Ich habe etliches überlebt. Ich werde auch weitere Ereignisse verkraften. Weil ich mich anpasse. Ich schätze das Leben als stetige Transformation. Meine Haltung und mein Verhalten entwickeln sich. Ich bin noch nicht fertig gebaut – ich bin überhaupt nicht fertig.

    Ich bin unvollkommen. Erst der Tod beendet und vervollkommnet mich. Bis dahin bin ich lernend. Ich lerne, neuartige Ereignisse auf mein Leben, auf meine Haltung und auf mein Verhalten zu übertragen. Ich lerne, deren Einfluss zu kanalisieren und damit meine Entwicklung gewissermassen zu steuern.

    Ich bin daher so zuversichtlich und beinahe unverwüstlich. Aber auch ich habe meine Momente, wo ich zweifle, grüble und meine Gedanken kreisen. Dann fühle ich mich für einige Minuten, Stunden ohnmächtig und ausgeliefert, schutzlos und verloren. Es ist nicht einfach. Es ist nie einfach.

    Im Gegenteil, ich glaube, die Selbstauseinandersetzung wird mit dem Alter mühsamer, anstrengender, weil die Persönlichkeit weitaus komplexer ist als z.B. in der Adoleszenz. Ein Jüngling zu transformieren, ist rasch erledigt. Die meisten Jugendlichen wechseln Weltanschauungen wie Sexualpartner. Heute Hip-Hop, morgen Metal.

    In meinem Alter ist die Transformation schleichend, kontinuierlich und kann selten an einem einzelnen Ereignissen sich akzentuieren. Vielmehr ist es die Summe der Ereignisse, welche die Summe der Persönlichkeit gestaltet. Diesen Prozess der Transformation zu bejahen, spendet Zuversicht und entspannt schliesslich. Ich bin beruhigt.


  • Die Zweckbeziehung

    Eine Zweckbeziehung ist nicht zu unterschätzen. Die Gefühle wechseln nicht, weil keine da sind. Stattdessen hat man sich auf einen Zweck verständigt. Der Zweck können gemeinsame Kinder, einen gemeinsamen Haushalt und/oder das gemeinsam Vereinsamen sein. Weitere Zwecke können vereinbart werden. Diese Beziehung ist nicht komplex.

    Stattdessen ist sie routiniert und vereinfacht. Die Tage sind strukturiert. Niemand wird überrascht. Eventuell verreist man und spielt ausnahmsweise das Paar. Ansonsten garantiert die Zweckbeziehung Kontinuität und Stabilität, Einfachheit und Beherrschbarkeit. Die Zweckbeziehung bedingt bloss einen gemeinsamen Zweck, den man aushandeln muss.

    Plötzlich ist das Zeitempfinden relativiert. Die Jahre vergehen. Eine zweckmässige Heirat krönt die Beziehung. Gleichzeitig gesundet der Körper, beruhigt sich die Seele; die Rastlosigkeit endet, man muss nicht mehr suchen und streben. Stattdessen ist man “angekommen” und häuslich geworden, spart fürs Eigenheim und für weitere Reisen. 

    Die Zweckbeziehung entschlackt das Leben. Die Zweckbeziehung ordnet. Die Zweckbeziehung reduziert stets auf den Zweck. Man erinnert sich, warum man zusammengezogen ist. Man ermahnt sich in “Ausnahmesituationen” gegenseitig, dass man den Zweck nicht vernachlässigen dürfe. Man heiligt sich. 

    Die Zweckbeziehung entzaubert. Sie schafft stattdessen psychische Stabilität, die wiederum in körperlicher und finanzieller Gesundheit resultiert. Die Zweckbeziehung ist der wahre Kitt der Gesellschaft. Ohne Zweckbeziehungen wären die Menschen längst wahnsinnig geworden. Hurra den Zweckbeziehungen.


  • Der Corana-Wahnsinn

    Der aktuelle Virus befriedigt nicht bloss den latenten Selbstzerstörungstrieb der Menschen, der wegen Spannungen in der Anpassung mit der Kultur sich bildet. Der aktuelle Virus bedroht auch den ohnehin fragilen Lebenssinn der Menschen. Der aktuelle Virus schafft Transparenz, wo wir keine wahrhaben können.

    Vor dem Virus waren die zwischenmenschlichen Beziehungen bereits angeschlagen, die Lohnabhängigkeit bereits mühsam, die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz bereits durchschimmernd. Die massenhafte Verbannung der Menschen in ihre eigenen vier Wänden vernichtet jedweden Eskapismus. Die Kulturindustrie, sonst treuer Lieferant, ist kollabiert. 

    Die Berufsjugendlichen können nun nicht mehr feiern und koksen, die ausweglosen zwischenmenschlichen Beziehungen sich nicht mehr auflockern. Die vermeintlich frei machende Arbeit zerstreut nicht mehr. Stattdessen sind nun alle im Homeoffice und rätseln, was sie überhaupt tun angesichts beispielsweise der gleichzeitig desolaten Zuständen in den Kliniken.

    Manche Familien werden zerbrechen. Kinder, Frau, Mann – allesamt beisammen, gezwungenermassen, weil ansonsten brav abgetrennt, fragmentiert und jeder in seiner Welt geschützt. Nun muss man sich verständigen, ausdrücken herrje. Unweigerlich ist man den sogenannten Psycho Dad aus einer Schrecklichen Netten Familie erinnert. Man lese:

    Who’s that riding in the sun?

    Who’s the man with the itchy gun?

    Well, who’s the man who kills for fun?

    Psycho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

    A little touched or so we’re told.

    Killed his wife ’cause she had a cold.

    Might as well, she was gettin’ old.

    Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

    He’s quick with a gun, and his job ain’t done.

    Killed his wife by twenty-one

    Shot her ’cause she weighed a ton

    Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

    Who’s the tall, dark stranger there.

    The one with the gun and the icy stare.

    Holding the scalp of his ex-wife’s hair.

    Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad

    Häusliche Gewalt wird in den nächsten Wochen zunehmen. Das auslösende Ereignis, der sogenannte “Trigger” ist dabei unerheblich. Ist es die persönliche Sinnlosigkeit? Ist es die fehlende Realitätsflucht, die derzeit technisch kaum noch praktiziert werden kann? Ist es es der Mangel an gesunder sozialer Distanz? Ist es auch bloss die Hyperrealität des kollektiven Virus-Wahns? Was auch immer einen kleinen Amoklauf auslösen mag, ist irrelevant – viel wichtiger ist, dass es passieren wird. 

    Doch nicht alle Verzweiflung muss in einem mörderischen oder sozialen Amoklauf vollendet werden. Der Amoklauf ist bloss eine Variante, die Überforderung mit der Welt primitiv, aber effektiv zu verdeutlichen. Die wahrscheinlichste Form des Ausdrucks ist die Selbsteinweisung. Die psychiatrischen Kliniken, ohnehin bereits herausgefordert, werden in den nächsten Wochen gestürmt. Wir sind alle eingesperrt, wir dürfen uns kaum noch bewegen, wir sind klassisch auf uns selber zurückgeworfen worden. Und dort ist ja bekanntlich nicht viel bis nichts. 

    Das ist untröstlich. Denn die Isolation führt zur Selbstreflexion, wozu wir aber nicht fähig sind, weil wir alle Evidenzen der Sinnlosigkeit unseres absurden Daseins bislang erfolgreich verdrängen konnten – beispielsweise mithilfe der Kulturindustrie oder ablenkender Lohnabhängigkeit im Grossraumbüro, wo ebenso absurde Sorgen unsere eigenen Bedenken überdeckten. Und jetzt wird es daher endlich kritisch.

    Noch berichten die Medien nicht über die kollektive Psychose, die uns bereits infiziert hat. Das einzige wirklich ansteckende dieses Virus ist der Wahn desselben. Und diese Pandemie überbordert bereits jetzt. Sie ist weitaus gefährlicher, weil sie existenziell und philosophisch ist. Sie kann nicht mit Atemmasken, Desinfektionsmittel oder sonstigem Gerät gelindert werden. Unsere normalen Hausmittelchen versagen. Wir sind ohnmächtig und hilflos.

    Es genügt nicht, dass der unsichtbare Virus unsere Gesundheit ernsthaft angreift. Das wäre irgendwie zu bewältigen. Der Virus ruiniert vielmehr unsere simulierte Selbstsicherheit, unsere gespielte Identität, unseren sinnlosen Sinn und zerstört unsere bereits zerbrechlichen Gemeinschaften. Das ist weitaus dramatischer. Ob die Menschen nach zwei Wochen Inhaftierung in ihren eigenen vier Wänden sich weiterhin anpassen und unterordnen werden, ist fraglich.

    In den nächsten Wochen werden Tumulte uns überraschen und empören. Denn die Ersten werden Widerstand leisten. Weil wir sind nicht so geübt in Autokratie. Wir sind eine verdorbene Gesellschaft von Hedonisten. Wir wollen bloss vergessen, feiern und manchmal so tun als ob uns die Umwelt wie Umfeld interessiere. Momentan sind die Städte noch gesittet. Doch wie lange?

    Denn bald folgt die existenzielle und philosophische Krise, verursacht durch die soziale Isolation. Und sobald der Mensch sich sinnlos empfindet, ist er zu allem fähig. Die Shoa wäre ohne das lebensphilosophische Vakuum der Zwischenkriegszeit undenkbar gewesen. Und die Plünderungen und Ausschweifungen in der Grossstadt infolge des Viruses ebenfalls nicht ohne die Isolation und anerkannte Sinnlosigkeit der eigenen Existenz.

    Ich will nichts beschönigen. Momentan sitzen die Privilegierten in ihren Homeoffices, skypen sich Mut und Zuversicht zu, tüfteln nach Methoden, wie man Remote Sessions optimieren könnte. Die Stimmung ist geradezu beschwingt. Man prostet remote, man klatscht und singt vom Balkon. Niedlich und herzlichst.

    Doch bald werden die Ersten zusammenbrechen. Denn sobald das psychologischen Rabattmarkenheftchen gefüllt ist – und man normalerweise im Supermarkt die nächste überflüssige und qualitativ minderwertige Pfanne abholen könnte – dann werden die Menschen “durchdrehen”, und zwar schön individualisiert und jeder in seiner Passion. Familien erschiessen? Möglich. Züge sprengen? Möglich. Supermärkte plündern? Möglich. Parks verwüsten? Möglich. Alles ist möglich, weil wir ja so einzigartig sind.

    Daher rate ich meiner geschätzten Leserschaft, das Spektakel weiterhin zu geniessen. Die nächsten Wochen werden dramatischer. Achtet nicht bloss auf die Opfer der Virus-Erkrankung. Sondern späht nach den Nebenerscheinungen. Die Auslastung der psychiatrischen Kliniken indiziert die allgemeine psychische Verfassung einer Gesellschaft. Und jene unserer Gesellschaft wird bald abnehmen. Versprochen!


  • Endlich der Virus

    Endlich der Virus. Er entfacht den Selbstzerstörungstrieb. Nicht verwunderlich, dass der Virus wegen guten Quoten fortgeführt wird. Wir alle sehnen uns nach einer Kraft, die unsichtbar ist, alles beeinflusst und jeden treffen kann. Seit mehr als zweitausend Jahren war es der monotheistische Gott, der überall und alles ist. 

    Vor mehr als zweihundert Jahren war es die unsichtbare Hand, welche die Märkte dieser Welt geschickt bespielte. Die Märkte wie Gott sind längst angezweifelt. Keine Identität ist mehr gesichert. Alle Lebenskonzept sind fraglich und herausgefordert. Der Sinn und Zweck der Existenzen sind ausgehöhlt und bloss noch funktionale Fassaden. 

    Nun also der Virus. Die Grenzen werden erwartungsgemäss geschlossen. Was die Flüchtlingskrise bereits angedeutet hat, nämlich wie fragil die offenen Gesellschaften Europas sind, wie sensibel die Zivilität auch hierzulande ist, verwirklicht der Virus nun vollends. Die Nationalstaaten sorgen sich wieder um die Eigenen. Europa ist endgültig tot.

    In Berlin – und wo sonst? – haben die Berufsjugendlichen das letzte Mal den Eskapismus gewagt. Empörend und verantwortungslos, monieren die Berufsmoralisten. Die Menschen ergattern das letzte Toilettenpapier. Die Regale der Supermärkte leerten sich samstags erschreckend. Man rüstet sich, man verbunkert sich. Man wartet auf den Untergang.

    Alle Menschen lieben und hassen das Leben gleichzeitig. Das Gefühl der Überforderung und Unterforderung ist gleichzeitig. Wir haben alle ein ambivalentes Verhältnis zum Leben. Manchmal sind wir manisch, manchmal depressiv. Wir sind alle unausgeglichen. Manche unausgeglichener, manche ausgeglichener. Doch letztlich ist die Identität zerbrechlich.

    Ein Virus stimuliert unseren Selbstzerstörungstrieb, unsere latente Todessehnsucht. Todessehnsucht, Angst, Unbehagen verkaufen sich bestens. Die Medien und Politik befeuern das Unbehagen mit der Welt. Sie können Bedürfnis anerkennen und mit Lösungen antworten. Das beruhigt, beruhigt Medien und Politik gleichermassen wie die Bevölkerung.

    Ich geniesse derweil das Spektakel. In Europa beginnt bald der Frühling. Die Liebe sucht sich ihren Weg. Eros ist ebenso machtvoll wie der Todestrieb. Bald werden die ersten trotzen und sich wieder küssen. Bald werden wieder frische Paare spriessen – so wie das Grün unserer gezähmten Pärken. Bald ist der Tod vergessen.


  • Wer und was ist hier wahnsinnig?

    Die Stuben der Psychiatrien und Psychologen, Lebensberater und Coaches sind gefüllt. Die Betten der psychiatrischen Einrichtungen sind überbelegt. Eine Identitätskrise ist in jedem Lebensabschnitt zu erwarten. Das Normale ist das Wahnsinnige. Das Normale ist wahnsinnig dergestalt, dass das Wahnsinnige normal ist. Hypernormalität. 

    Die Menschen zerbrechen. Auslösende Ereignisse mögen variieren. Einige anerkennen, handeln und lassen sich therapieren. Andere verdrängen, schikanieren und versuchen mit Ersatzhandlungen zu funktionieren. Die Bewältigungsstrategien sind naturgemäss unterschiedlich. Erziehung, Kultur, Kontext, Umfeld beeinflussen wesentlich deren Auswahl.

    Draussen in der Normalität wuchert der Wahnsinn. Das Stimmungsbild der Gesellschaft ist düster. Zwischenmenschliche Beziehungen verschwenden etliche psychische Energien auf Banalitäten. Die Gesellschaft als Gesamte toleriert Widersprüche. Die Gesellschaft honoriert zweifelhaftes Verhalten, aber verwahrt vermeintlich Unangepasste und Unnachgiebige 

    Junge wie Alte berauschen sich, müssen spülen, damit sie im Alltag fristen können. Der Dschungel der Grossstadt züchtet neurotische Menschen. Die Kampfzonen sind maximiert. Alle Lebensbereiche sind im Wettbewerb und im Dauervergleich. Das fragile Selbst versucht sich zu verorten und zu stabilisieren. Es schwankt und irrt.

    Der grösste Wahnsinn ist die Normalität. Das normale Leben ist absurd. Die Last des Universums, der Weltschmerz, die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung der Natur, die Sinnlosigkeit der Lohnabhängigkeit, die Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz im kosmologischen Kontext – das alles haben wir zu schultern. 

    Zudem beobachten wir die Überforderung und Ohnmacht unserer geliebten Mitmenschen, innerhalb dieser Welt sich zu arrangieren. Manche verlieren wir dem Alkohol, andere im alles durchdringenden Selbstzweifel, andere in den Kompensationshandlungen. Andere in unglücklich gewählten spezialisierten Einrichtungen. Nirgends und niemand ist sicher.

    Es sind alle betroffen und trifft irgendwann jeden. Niemand ist sicher. Man kann anfänglich Widerstand leisten. Doch wir alle brechen. Wir sind schutzlos ausgeliefert. Das Ich im freudschen Sinne war nie “Herr im Haus”. Nietzsche nahm uns Gott, Freud die Überzeugung, dass wir unsere Psyche beherrschen könnten. Niemand kann’s. 

    Wir sind alle verloren. Manche wissen es bloss noch nicht. Ein winziges Ereignis kann uns übermannen.


  • Ein zeitgenössisches Stimmungsbild

    Die Tage sind kurz. Das Wetter wechselhaft. Mal kühl-kalt, mal frühlingshaft warm. Immer wieder klagend über den sogenannten Klimawandel. Ob von Menschen verursacht oder ob von grossen Zyklen, die wir noch nicht verstehen. Gleichzeitig bedroht ein neuartiger Virus die Gesundheit der Weltbevölkerung.

    Selbst das Super-China, das vom Wetter bis zu den Gedanken der Untertanen alles beherrscht, kann den Virus nicht eindämmen. Ganze Regionen sind isoliert. Das Militär wacht, dass niemand aus den Lagern bricht. Hierzulande kalkulieren Wirtschaftsvertreter den globalen sowie lokalen Rückgang der BSP. 

    Das Fernsehen wirbt mit offenem Eskapismus. Für fünfundzwanzig Franken kann man neuerdings dem Alltag entfliehen, noch frische Pfade eines unterentwickelten Landes treten, dort als Tourist überlegen sich wähnen. Daneben regieren narzisstische Politiker die grossen westlichen Demokratien.

    Trump wie Johnson, alleine optisch ähnelnd, überschütten die Vergessenen und Abgehängten mit Anerkennung und Respekt, derweil sie ihre Demokratien unterminieren. Die grösste Idee der Weltbevölkerung, die Europäische Union, erstarrt derzeit einem inneren Flügelstreit. Problem: Das Budget der kommenden Legislatur. 

    Die Schweiz empört sich kurzweilig über die Krypto-Affäre. Wer wusste was? Wie neutral war die Schweiz wirklich? Obwohl allen offenkundig ist, dass die Westintegration spätestens 1945 abgeschlossen war. Man bemüht weiterhin Mythen und spielt mit Identitäten. In den Clubs der Grossstädten derweil konsumieren die Jugend und Berufsjugendlichen Aufmunterndes.

    Gleichzeitig füllen sich die Anstalten mit überforderten, entfremdeten und geschädigten Menschen. Niemand kann versichern, wer normal und wer wahnsinnig sei. Ungeschickte Ärzte urteilen spontan über Biografien, die sie nicht im geringsten erfassen können. Ist Trump wahnsinnig? Oder bin ich wahnsinnig? Bin ich krank, sobald ich nicht funktioniere?

    Zwischendurch wütet die Fasnacht. Die Menschen betrinken sich vor vier. Alternde Menschen begieren einen erneuten Frühling. Andere koksen. Die Fasnacht sei bloss einmal im Jahr . Man verzeiht einander, man erduldet den grossen Rausch, man anerkennt das Bedürfnis, einmal spülen zu dürfen.


  • Ich will nicht funktionieren

    Ich hasse das Wort “Funktionieren”. Ich will nicht funktionieren. Ich bin zwar durchaus Spezialist, Prototyp, mich anzupassen und so. Aber ich will eigentlich nicht. Meine ganze Biografie liest sich permanenter Ablehnung des Funktionierens. Ich habe mir stets Räume geschaffen, wo ich nicht funktionieren musste, weil dort ausreichend Alkohol floss. Als Ausgleich fürs stete Funktionieren.

    Ohnmächtig gelebt, darüber habe ich vor Jahren mal erzählt. Wer funktioniert, lebt ohnmächtig, überantwortet das Leben der Funktion. Man ist nunmehr eine Funktion, eine Rolle, die man zwar einigermassen selber basteln kann, dennoch eine Rolle und dadurch Fassade und Hülle bleibt, von der Individualität einen weiter entfremdet.

    Wenn ich arbeite, funktioniere ich, obwohl ich durch meine Arbeit das allgemeine Funktionieren der Arbeitswelt aufheben möchte. Ein naheliegender Mitbewerber hat mir mal attestiert, ich hätte zu viele Kompromisse getätigt, mich zu sehr angepasst und mich von meinem Herzen entfernt. Ich konnte ihm nicht widersprechen oder nichts relativieren. 

    Gewiss muss ich funktionieren, damit ich in der Leistungsgesellschaft überleben kann. Das Hofnarr-Konzept tröstet mich zuweilen, weil ich aussprechen darf, was niemand sich traut. Die Arbeit konsumiert derzeit die meiste Lebenszeit. Sie kann erfüllen. Doch auch andere Herausforderungen des Lebens können beseelen. Und diese Seele kann man nicht funktionierend erstreben.

    Wenn ich nach Anleitung LEGO baue, dann funktioniere ich. Ich studiere, versuche den Bau zu optimieren. Das neue Yoga für alle Gestresste, LEGO, funktioniere ich um in eine blosse Funktion. Zuweilen esse ich auch funktional. Ich träumte früher von einer rein funktionalen Ernährung. Es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel über Functional Food, ich bin weiterhin süchtig nach künstlichen Vitaminen und so.

    Es ist nicht okay, dass ich bei der Arbeit funktioniere. Es ist ebensowenig okay, dass ich auch jenseits der Arbeitszeit funktioniere. Das allgemeine Steigerungsspiel soll mich nicht stets verfolgen. Weil Funktionieren bedeutet letztlich Optimieren und Anpassen und Zurückziehen. 

    Eine erste Methode, das Funktionieren aufzubrechen, ist das LEGO-Spielen ohne Anleitung. Es gibt keinen Sinn, die Bauschritte zu parallelisieren oder zu optimieren. Schneller bauen zu können ist sinnlos. Vielmehr ist die Auseinandersetzung, das Fühlen und Tasten der Steine, das unkoordinierte und unkontrollierte Spielen Sinn und Ziel. Etwas zu schaffen, ohne zu wissen, was. Es ist eine bewährte Methode, mit den Händen, damit mit dem Körper anstatt mit dem Kopf zu denken. 

    Darin kann und muss man nicht funktionieren. Auch die menschliche Sexualität muss nicht funktional sein. Sie ist es, sobald man sie funktional erledigt. Wie ein Job, eine Pendenz, ein Issue aus dem Backlog zieht. Man hat dann genügend Gründe, Sex zu haben, Sex zu rationalisieren, und zwar alles funktionale. Um etwas zu vergessen, verdrängen, um sich selber zu bestätigen, belügen oder was auch immer. 

    Auch Beziehungen können funktional bewältigt werden. Es ist dann aber ein Bewältigen. Die Alternative ist die nicht-funktionale Beziehung. Eine nicht-funktionale Beziehung ist ehrlich, augenblicklich und nicht wiederholend. Sie ist empathisch und nicht strategisch. Strategisch ist der Schachspieler, der Narzisst, der sich ins Gegenüber hineindenken versucht, um mögliche Schritte zu antizipieren. Das ist nicht emphatisch. Eine empathische Beziehung ist, miteinander zu reflektieren, wachsen, gedeihen, aneinander reiben. Derweil mit grösstem Verständnis und Zufriedenheit.

    Ich hasse funktionale Beziehungen. So wie auch funktionale Arbeit hasse. Ich will nicht bloss tätig sein, damit ich nicht Blöderes anstelle. Ich will nicht einfach funktionieren, damit ich funktioniere und mich funktional bestätigt fühlen kann. Ich will lebendig sein, agieren, interagieren und mich befruchten lassen. In meiner Arbeit bin ich zu oft strategisch statt empathisch. Ich bin zu funktional statt menschlich. 

    Ich bin trainiert und ausgebildet worden als funktionaler Arbeiter. Ich kann für einige Monate gut funktional sein. Doch ohne Alkohol oder sonstige Substitutionen könnte ich maximal eine Woche funktionieren. Ich habe mich jahrelang belügt, ich könnte funktionieren. Ich konnte bloss funktionieren, weil ich mich alternativ berauschte. Ich bin daher ziemlich mies im Funktionieren. Ich könnte keinen Tag funktionieren.

    Ich werde deswegen nicht meinen Job kündigen und so, eine neue berufliche Anstellung wünschen und so weiter. Ein neuer Job löst das Grundproblem nicht. Ein neuer Job schafft bloss einen neuen Rausch, der mir Funktionalität simuliert, weil er mich frisch stimuliert. Deswegen bin ich auch Unternehmensberater geworden, damit ich niemals lange an einem einzigen Ort weilen muss und so stets mit frischer Stimulanz mich versorgt weiss. Nett.

    Derweil ich im grossen Funktionszusammenhang gefangen bin. Ohne dass ich es bemerkt habe. Sehr tragisch. Bald ist ja wieder ein Montag, ich werde pünktlich meine Reise antreten, zum fernen Kunden pendeln. Ich werde dort alle Menschen begrüssen. Ich werde mich als erstes mal sehr verletzlich zeigen. Bloss dass die Mitmenschen wissen, dass ich auch menschlich bin. Weiterhin menschlich bleibe. Man muss sich nicht fürchten, weil ich kann nichts besser, ich bin auch nicht besser, bloss weil ich besser funktional scheine. 

    Ich glaube, mit mehr Menschlichkeit kann ich insbesondere in den Unternehmen mehr Menschlichkeit schaffen. Einfach mit Vorleben, Vormachen, Vorführen. Und nicht mit strategischen oder gezielten Absichten. Einfach natürlich. Ohne Hintergedanken oder geheimer Agenden. Dadurch funktioniere ich auch weniger, muss weniger funktionieren, und bin weniger im Widerspruch zwischen meiner Arbeit, meiner Identität und meinem Sinn.

    Ich will nicht funktionieren.