Ich kann die Missachtung und Verachtung meiner Mitmenschen fürs Religiöse nicht teilen. Ich bin hier vermutlich zu flexibel. Ich verabscheue keine Religionen, keine Sekten oder sonstwas. Ich mag sie irgendwie. Warum erkläre ich heute.
Ich hatte mich heute einem Kunden gegenüber geöffnet. Ich wusste, er muss religiös sein. Er ist sehr ausgeglichen, sehr zielstrebig, integer und liebenswert. Er ist einige Jahre älter als ich, hat aber eine Frau und drei Kinder. Er hat mir anvertraut, dass er in einer lokalen Freikirche sich engagiere. Er helfe psychisch kranken Menschen. Er spiele Musik. Es sei seine erweiterte Familie. Viel Liebe, Geborgenheit und Sicherheit erhalte, spüre er.
Ich habe weder verurteilt noch angegriffen. Alleine durch meine Rolle als externer Berater ziemt sich so etwas nicht. Doch wie hätte ich privat reagiert? Eben ebenso gleichmütig. Ich habe ihm offenbart, dass ich Religionen und insbesondere wirklich religiöse Menschen bewundere. Ich habe ihm die Geschichte des Christentums zusammengefasst. Eine Religion der Aussenseiter, der Verlierer, der Randständigen, die alle nach Liebe und Anerkennung trachteten. Ein Wettbewerbsvorteil der Christentums ist, dass die Christen sowohl im Diesseits wie auch im Jenseits Liebe und Anerkennung erfahren. Das vereinfacht vieles.
Natürlich hat mein Kunde erwidert, dass die heutigen Strukturen nicht mehr viel mitm originalen Christentum gemeinsam hätten. Diese ganze Institutionalisierung, Verstaatlichung und so weiter verwirre und entfremde ihn. Ich kann das spüren. Die christlichen Staatskirchen lehren den gemeinen Menschen vorbei. Die Freikirchen haben das bekanntlich erfolgreich beantwortet. Ich fühle mich ebenfalls entfremdet, zum Beispiel von der akademischen Philosophie. Doch darum geht’s mir nicht.
Diese ganzen, meinetwegen auch Freikirchen vergrössern die Liebesfähigkeit ihrer Anhänger. Sie erschaffen eine Gemeinschaft. Eine Familie. Sie sorgen sich für einander. Niemand muss oder wird Not erleiden. Sie werden aufgenommen und aufgehoben. Viele kritische Fragen über Sinn und Unsinn unseres Daseins werden abgenommen. Man kann sich wirklich “befreien”. Man muss nicht stets grübeln und hinterfragen. Es ist eine grosse Gelassenheit.
Die zivilisatorische, weil zähmende Wirkung solcher Gemeinschaften möchte ich ebenfalls würdigen. Eine solches Panoptikum verhindert jeden Ausbruch. Die Exzesse und Auswüchse unserer Zeit sind dadurch einigermassen gedeckelt. Es können nicht alle Futuristen sein, die hemmungslos irren, leidenschaftlich suchen und mit Grenzritte sich berauschen. Das würde sonst in einem epischen Weltkrieg oder amphetaminhartem Gangbang im Hotel California enden. Das möchte niemand.
Solche Menschen wirken irgendwie glücklicher und zufriedener. Wenn ich mein Leben vergleiche, hat mein Kunde technisch schon das bessere. Ich darf und kann mich zwar total entfalten. Ich kann begeistern und verführen. Ich kann kreischen und durchbrennen. Ich habe alle Möglichkeiten und Fähigkeiten, bin vielseitig interessiert und gelehrt, kann mich sogar irgendwie ausdrücken. Ich kann und darf nachdenken, so viel und so oft ich will und kann und darf. Aber ja, glücklicher bin ich deswegen nicht. Im Gegenteil, ich bin sehr unglücklich.
Solche Gemeinschaften stabilisieren unsere Gesellschaft. Sie sind zwar intellektuell autark, aber trotzdem einigermassen integriert. Die Gemeinschaft selber domestiziert uns. Sie besänftigt und tröstet. Vor allem der grosse Trost beruhigt. Der grosse Trost, weil unser Leben einen sinnlos dünkt. Sie schenkt Hoffnung, sie nimmt Zweifel. Viele Menschen profitieren. Viele Menschen leben wirklich glücklicher. Sie zweifeln keine Minute. Sie fühlen sich geliebt. Das macht den Unterschied.
Wir Futuristen aber werden nie geliebt werden. Wir werden immer bloss eine Ahnung, kleine Momente des Glücks und der Liebe kosten dürfen. Momente, die sich rasch verflüchtigen. Diese Momente befeuern unsere Suche und Sehnsucht. Sie provozieren und reizen uns. Wir werden nicht erlöst oder geheilt. Wir werden stattdessen sterben. Weil wir wissen, dass wir auf verlorenem Posten harren. Niemand wird uns je retten. Kein Gott, keine Kirche, keine grosse Spiritualität, die alles entkrampft.