Aus dem Alltag eines leblosen Lebens

Mit diesem Beitrag experimentiere ich weiterhin. Ich versuche einen typischen Alltag eines erloschenen Menschen zu beschreiben. Fiktional. Aber das Leben ist ohnehin fiktional. Daher können wir allmählich nicht mehr eine Realität differenzieren. Doch das ist eine andere Geschichte. Viel Vergnügen.

Fünf Uhr morgens. Der Wecker klingelt. Tagwacht! Aufstehen. Er bestätigt seinen Wachzustand. Er steigt ausm Bett. Er sitzt aufs Klo. Kackt. Guckt xhamster.com. Ah, neue facial-Beiträge. Sehr schön. Er öffnet seine Playlist. Er würfelt; heute mal etwas anderes. Heute mal etwas wagen und riskieren. Nicht immer dasselbe. Der Zufall kürt Pink Floyds Any Colour Like You. Gut. Noch ausreichend Shampoo? Perfekt.

Er betritt die Dusche. Er mixt sich eine wohlige Wärme. Er streichelt seine Hoden. Er seift seine Rosette. Er schamponiert die Haare. Er putzt das Gesicht. Er säubert seinen Schwanz. Er duscht schlicht und einfach. Er pfeift die hypnotisierende Bassmelodie des Liedes. Das Ende des Musikstückes taktet seine Vorbereitszeit. Nun sich beeilen. Fünf Minuten in der Dusche überzogen. Also raus, anziehen.

Er will masturbieren. Doch die Zeit ist nicht dafür kalkuliert. Der Zeitplan ist streng. Der Zug in die grosse Stadt leider stets pünktlich. Socken, Unterhose. Grauer Standardanzug, tailliertes weisses Hemd. Oh, Zähne putzen. Parfüm. Bald komplett? Seine Lederware ist farblich abgestimmt. Alles braun. Tasche gepackt. Natel geladen. Türe auf. Er entsichert das Velo. Er legt die Tasche ins Körbchen. Radelt durch das weitläufige Einfamilienhausquartier.

Er überquert Strassen, rast aufm Trottoir. Er stoppt beim Bahnhof. Zeit für Kaffee und Wasser. Er schlendert zum Perron. Dort schlürft er seinen Kaffee. Raucht Zigaretten. Beobachtet die Mitmenschen. Nichts besonderes. Er muss keine Heldentat meistern. Er muss keine Drachen töten. Er muss nicht um sein Leben bangen. Er muss sich nicht fürchten. Pünktlich ist der Fernverkehrszug.

Er öffnet seinen Laptop. Er aktualisiert Berichte des gestrigen Einsatzes. Der Kunde in Basel entwickle sich gut. Die Maturität sei seit zwei Monaten über vier Agililisierungspunkte gestiegen. Das sei zuversichtlich. Der Job kann bald erledigt werden. Allerdings könne man noch weitere Verbesserungen prüfen. Der Kunde sei noch nicht am schweizerischen Durchschnitt. Um weiterhin zu überleben, müsse er sich mehr agilisieren.

Agil oder stirb! So lautet die Kampagne, die ihn seit Wochen beschäftigt. Er selber ist längst gestorben. Er schlafwandelt bloss. Sein Leben ist funktionalisiert. Es erfolgen zwar Ereignisse, doch diese überwältigen ihn nicht. In Bern spaziert er zu seinem Kunden. Er grüsst und wird begrüsst. Er installiert seinen Arbeitsplatz. Er verkabelt sich. Er liest Emails. Er kontrolliert seinen Kalender. Was nun?

Er raucht erneut. Ein weiterer Kaffee. Über die Bedeutung des Kaffees mag er nicht philosophieren. Oh, ein Gespräch unterbricht seine Ruhe. Er darf über das sogenannte Offenheitsprinzip schwärmen. Er hofiert seinen Gesprächspartner. Aber geschickt dosiert. Zumindest muss er nichts vorspielen. Denn seine Bewunderung ist im Kern ehrlich und authentisch. Er muss bloss kritische Distanz simulieren.

Mittags isst er in der Stadt. Alleine. Er schlendert durch die breiten Gassen. Er hält kurz inne, raucht. Erblickt eine alte Inschrift eines alten Hauses. Alles hier ist mit Geschichte beseelt. Seine Geschichte ist aber erloschen. Er fühlt sich geschichtslos. Er telefoniert mit seiner Frau. Sie rapportieren den bisherigen Tag. Das Gespräch langweilt ihn. Er nennt es Arbeit. Eine Beziehung ist immer strenge Arbeit.

“Arbeiten kann er gut”, beruhigt er sich und beendet das Gespräch. Er verlängert die Mittagszeit. Er wartet auf prominenten Bank an der Schanze. Er starrt den Alpen entgegen. Links und rechts diskutiert das gemeine Bürovolk. Mittagszeit in der Stadt. Technisch ist er besser gekleidet als alle diese Leute. Technisch ist er besser bezahlt. Sie beachten ihn denn auch. Sie wundern sich bloss, wieso er alleine wartet. Und worauf.

Er wartet auf tausend Düsenjäger. Auf einen Meteoritenhagel. Dass der Himmel endlich verfinstere. Dass Nazis die Welt bombardieren. Atombomben explodieren. Menschen ringsherum panisch hetzen. Die Ordnung zusammenbreche. Dass das Leben ende. Er erwacht ausm Tagtraum. Links und rechts prüft er. Alles normal. Niemand stirbt. Keine Nazis erobern Bern. Keine Stahldüsenjäger donnern.

Er steht auf. Verabschiedet sich. Beim Bahnhof bezahlt er einen weiteren Kaffee. Er wartet auf die pünktliche Abfahrt seiner S-Bahn. Weil er muss wieder arbeiten. Oder so tun als ob. Denn in Wirklichkeit arbeitet er nicht. Er plaudert bloss. Manchmal stützen schriftliche good practices seine Worte. Er schreibt Analysen und Empfehlungen. Und kommuniziert sie mündlich den Kunden. Sie hören und befolgen.

Es ist keine ehrliche Arbeit. Aber er kann sie gut. Er hat auch eine wahre Vision. Er will den Arbeitsplatz Schweiz retten. Die Konkurrenz ist gross. Er glaubt ans gute System Schweiz. Das ist seine Vision. Er hat einen richtig grossen Auftrag. Das erfüllt ihn. Zuweilen. Doch manchmal möchte er bloss ausbrechen. Doch wohin und wozu? Er muss nirgends hin. Weil Glück kennt er nicht. Daher auch ohne Antrieb. Kein Streben nach Glück.

Wer nicht strebt, stirbt. Er strebt nicht. Er ist tot. Seine Organe funktionieren. Sein Gehirn verknüpft und vernetzt. Aber er ist tot. Er erwartet nichts vom Leben. Seine Frau drängt zwar zur Heirat, zum gemeinsamen Kind. Das könne Sinn und Glück stiften. Er will und braucht das nicht. Weil Glück kennt er nicht. Glück ist seine Fata Morgana. Eine optische Täuschung. Alle glauben, sie zu erreichen, doch sie verschwindet immer wieder.

Sobald man sich ihr nähert. Also bemüht er sich nicht. Er lässt sich nicht verführen. Er kauft sich kein Auto. Er verreist nicht. Er isst weder gesund noch ausgewogen. Er tut nichts, was Glück verspricht. Er hat keine Kinder. Er hat zwar eine Frau, doch sie funktionieren bloss. Keine Leidenschaft. Diese Beziehung gleicht einer Zweckehe. Sie bewirtschaften ein gemeinsames Haus. Essen meistens zusammen und alleine.

Er muss aufs Klo. Durchfall. Ein ziemlich zehrender Durchfall. Er verliert Vitamine. Er verliert Substanz. Durchfall ist wie Kotzen. Der Körper rebelliert. Er dankt seinem Körper. Doch er ignoriert die Warnsignale. Wieder Kaffee. Ein Vitaminwasser zusätzlich. Leicht abführend. Er vollendet seinen Tagesbericht. Schliesst mit weiteren Empfehlungen für den Kunden. Die er gerne nächste Woche begleiten möchte. Er verlässt das Gebäude.

Seine Frau erwartet ihn zum Znacht. Er hat noch eine Stunde freie Zeit. Die nutzt er, um sich in einer Bar rasch zu betrinken. Es ist ein Ort der Verstossenen. Kranke, verfaulte Menschen irren dort. Sie betteln für Geld oder Drogen. Sie tragen abgewetzte Kleidung. Sie stinken. Ihre Augen verraten Leere und Enttäuschung und Ablehnung. Hier fühlt er sich aufgehoben und geborgen. Hier entdeckt ihn niemand.

Drei grosse Bier würgt er herunter. Er bezahlt. Zwei Dealer offerieren Drogen. Er muss ablehnen. Seine Frau hasst Drogen. Er fürchtet sich nicht. Aber er muss später noch Normalität simulieren. Also verzichtet er. Nun stresst er auf den Bus. Der fährt glücklicherweise nicht pünktlich. Im Bus ist er eingeengt. Schüler und Schülerinnen quatschen. Die Mehrheit vergnügt sich mit Alltagsspiele. Er liest. Sein Velo vergisst er.

Dreissig Minuten später ist er Zuhause. Das ist dort, wo er funktioniert. Wo er seine workflows automatisiert hat. Er kaut einen Kaugummi, spült den Mund. Er wechselt die Kleidung. Fünfzehn Minuten später kehrt seine Frau heim. Sie küsst ihn flüchtig. Er liest weiterhin. Sie berichtet nochmals, was heute geschah. Er hört zu, nickt. Gelegentlich kommentiert er. Doch grösstenteils hört er zu.

Sie kochen. Er isst. Sie liegen aufs Sofa. Kalt. Er liest. Sie schaut fern. Ihre Serien. Diese zerstreuen sie. Er kann nicht zusehen. Er verabscheut das zeitgenössische Angebot der Kulturindustrie. Er konsumiert lieber nichts als den Schrott. Manchmal erbarmt er aber. Und investiert in seine Beziehung. Er quält sich durch voraussehbare Sendungen. Seine Frau darf sich empören. Er möchte sterben.

Um 22:00 Uhr bemerkt er, dass er nun schlafen solle. Er müsse morgen ja früh aufstehen. Seine Frau protestiert. Er erwidert, er brauche den Schlaf. Sonst könne er sich nicht konzentrieren. Erneut Zähne putzend. Er zieht sich aus. Legt sich ins Bett. Er denkt nicht nach. Er fühlt nichts. Er schläft einfach ein. Eine halbe Stunde später weckt seine Frau ihn unabsichtlich. Er wünscht ihr eine gute Nacht. Und schläft wieder ein.

Er hofft, dass er nie erwachen muss. Er träumt, dass er ausbricht. Dass er auswandert. Dass er alles hinschmeisst und zerstört. Dass er seinen Job kündigt. Seine Frau betrügt. Dass er sein Sparkonto plündert. Dass er sich verausgabt und alles verschwendet. Leider erwacht er. Fünf Uhr morgens. Der Wecker klingelt. Tagwacht! Aufstehen. Er bestätigt seinen Wachzustand. Er steigt ausm Bett. Er stürzt die Treppe herunter. Er verstirbt vor Ort.