• Die Einsamkeit

    In diesem Blog ist das Schlüsselwort Einsamkeit präsent. Ich wiederhole mich gerne. Ich möchte heute bloss die Erkenntnis teilen, dass ich mich dann einsam fühle, wenn ich mich nicht einsam fühle möchte. Ich kann problemlos einsam mich langweilen, meine Leben vergeuden, wenn ich niemanden erwarte.

    Dann kann ich mich komplett zurückziehen, ich kann meine Einsamkeit kosten. Ich kann darin blühen und glücklich werden. Ich bin dann unabhängig, frei, losgelöst. Ich habe nichts zu befürchten; keine Nähe, kein Vertrautsein, keine ungestillten Sehnsüchte. Ich kann mich ganz mir selber hingeben, autonom und unbefangen.

    Aber wenn ich jemanden vermisse, dann vereinsame ich. Ich bin dann untröstlich. Ich kann meine Sehnsucht nicht lindern. Die Einsamkeit dann erwürgt mich. Ich kann mich nirgends festhalten, ich bin blockiert und gelähmt. Ich kann mich bloss betäuben und ablenken, doch das vervielfacht die Sehnsucht nachträglich.

    Ich kann mich dann nicht mehr darauf besinnen, dass Einsamkeit ein Urzustand ist, den ich längst akzeptiert habe. Denn die Sehnsucht verheisst eine Ahnung des Glücks, das zu würdigen ich aber verlernt habe. Ich bin ein unbeholfener Glücksritter, welcher stets dem Glück nachreist, es stets aber verpasst.


  • Im Theater

    Kürzlich besuchte ich eine lokale Aufführung. Ich bin sehr selten im Theater. Ich kann nicht zwei Stunden mich fokussieren, was nicht mich begeistert oder einnimmt. Ich nenne das auch Arbeit, wo ich ebenfalls mich zwingen muss, Interesse zu heucheln. Jedenfalls sah ich die letzte Aufführung Was geschah mit Daisy Duck der kleinen Bühne Basels. 

    Glücklicherweise kannte ich niemanden. In Olten unmöglich. So musste ich keine Konversationen vor oder nach der Aufführung leisten. Die kleinste Grossstadt Basel schenkt mir gewisse Anonymität und dadurch Unbeschwertheit – gleichzeitig auch Einsamkeit, die mich sozial verwahrlosen lässt. 

    Der Platz auf der Tribüne war diskret gewählt. So konnte ich mindestens einmal meine Schulmädchenblase leeren, ohne das Publikum stören zu müssen. Den zweistündigen Nikotinentzug meistere ich problemlos, schliesslich schlafe ich auch nichtrauchend. Soviel zum persönlichen Rahmen.

    Das Publikum teilte sich zwischen interessierten Schülerinnen der Gymnasien Kirschgarten und Münsterplatz und alten Männern sowie Freunde der lokal integrierten Schauspielern. Vermutlich haben sich einige auch bloss verirrt, waren zufällig und ohne rechte Absichten zugegen. 

    Das Stück sollte unterhalten. Ich glaube, es war eine Komödie. Oder doch eine Tragödie? Ich bin verunsichert. Gemäss Programmheft durfte ich «eine kritische Auseinandersetzung mit Hollywood-Träumen, Daisy & Co» erwarten. Die fehlte jedoch, in energischen Monologen der Schauspielern rutschen zwei-drei Referenzen durch. 

    Vermutlich hatte ich einfach zu hohe Erwartungen. Vermutlich habe ich eine lustige Dialektik der Aufklärung erwartet; dass das Stück die Gegenwart entschlüsselt mithilfe Entenhausens Gleichnissen. Weil diese Comics kenne ich selber, das wäre ein noch zu bergender Schatz voller Gesellschaftskritik und Ironie und vermutlich auch Spass. 

    Die Schauspieler kompensierten. Vermutlich haben sie gut geschauspielert. Ich kann das handwerklich nicht beurteilen, weil ist eben ein Schauspiel. Sie waren wirklich allesamt bemüht, das leere Stück irgendwie zu füllen. Sie folgen ja bloss Anweisungen, daher kann man ihnen nichts vorwerfen. 

    Würde ich dieses Stück einem Freund empfehlen? Leider nicht. Andererseits sind zwei Stunden vergeudete Lebenszeit nicht wirklich erwähnenswert, weil wir bereits anderswo und anderweitig weitaus mehr Zeit verschwenden; sei es in toxischen Beziehungen, in lustlosen und sinnlosen Jobs oder schlichtweg im Stau. 

    Daher ist ein Besuch nichts Falsches. Glücklicherweise wird das Stück nicht mehr aufgeführt, so erübrigt sich die Frage. Und damit ist auch der Wert dieser Besprechung hier fraglich.


  • Die strategische Freundin

    Die beiläufige Einsamkeit in Basel-Stadt könnte ich lindern, indem ich eine strategische Freundin suchen würde. Also eine, die hauptsächlich zum Vernetzen gut genug ist. Ich könnte etliche Unzulänglichkeiten ignorieren, solange diese Freundin mich mit ihren Kollegen und Freunden in Basel-Stadt vernetzt.

    Sie müsste minimal in Kleinbasel wohnen und maximal aus Kleinbasel stammen. Drei Branchen bevorzuge ich, wo sie tätig wäre: Gastro, Soziale Arbeit und Kunst/Kultur. Alle anderen wären nicht praktikabel, weil nicht gerade kompatibel mit meinem Lebensweg. Bekanntlich sind Adepten dieser Branche besonders in der Stadt vernetzt.

    Ob ich allerdings eine solche Freundin auch langfristig bewirtschaften könnte, ist ungewiss. Ich könnte sicherlich ein bis zwei Jahre Interesse simulieren, bevor ich vollends mich übergeben und/oder permanent masturbieren müsste. Es wäre nicht sonderlich nachhaltig. Überdies müssten die neuen Freunden die Freundschaft kündigen, sobald ich mich trenne.

    Das mindert meine Motivation, eine strategisch begründete Beziehung zu starten. Überhaupt könnte ich das vermutlich nicht. Ich will nicht erneut missverstanden, ungeliebt und ungeborgen mich fühlen. Zumindest nicht für zwei Jahre erneut meines Lebens, das ja auch allmählich schwindet und stets vergänglich ist.


  • Nach Corowahn

    Der Ausnahmezustand ist ja bekanntlich gelockert worden. Die Menschen wollen sich wieder vergnügen. Die berühmten Strassen der grossen Städten sind wieder bevölkert, manche sogar überbevölkert wie die Steinenvorstadt Basels, wo Halbstarke und Arrangierte zum Cüpli und zur Stange in der Systemgastronomie sich verabreden. 

    Auch ich habe mir bereits einen gewissen Eskapismus mikrodosiert. Ich sass einige Stunden in einer Bar, habe Weizenbier getrunken, die Menschen beobachtet, mich quasi versteckt; ich war ein kleiner geiler Voyeur. Ich genoss einen Abend ohne Verantwortung und Verpflichtung. Ich konnte einfach da sein und musste nichts. 

    Die Clubs sind jedoch weiterhin geschlossen. Die Öffnungszeiten der Bars sind ebenfalls eingeschränkt. Die vormalige Ausgelassenheit ist höchstens im Privaten zu zelebrieren. Die Gesprächsthemen sind weiterhin von Corowahn durchsetzt. Wo übrigens auch jedermann hierzulande anknüpfen kann. 

    Weil jeder hat seine persönliche Lockdown-Geschichte. Diese Geschichten können nun wieder geteilt werden. Das verbindet Menschen. Wer seit jeher leichte Gespräche sucht, findet sie mit Corowahn rasch. Selbst ich bin versucht, über Corowahn mich auszutauschen. Bislang konnte ich mich stets beherrschen. 

    Ich persönlich genoss den Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand hat mir meine grundsätzliche Einsamkeit nochmals verdeutlicht. Ich habe deswegen auch mehr mit meiner Heimat mich sozialisiert und noch verbundener gefühlt. Ich reiste gelegentlich nach Olten, traf dort Freunde und schätzte die mir vertraute und sichere Gesellschaft. 

    Neuerdings bin ich beruflich wieder unterwegs. Ich fahre Zug. Die Züge sind geringer ausgelastet als in den Sommerferien. Das entspannt das Zugfahren. Bislang ist der reguläre Fahrplan noch nicht vollständig reaktiviert. Manche Verbindungen sind noch unterbrochen. Das stört mich nicht sonderlich, ich wollte es lediglich erwähnt wissen. 

    Ich werde Corowahn als maximale Einsamkeit erinnern. Ich konnte reflektieren. Beruflich konnte die Firma neue Ideen konkretisieren. Die Firma hat nun endlich einen Weg zum Nordstern skizziert. Corowahn hat uns befreit und bestätigt und schliesslich bekräftigt, etwas zu riskieren. Wir sind mutiger und entschlossener geworden. 

    Manchmal müssen sich einfach die Verhältnisse ändern, damit die Menschen sich im Verhalten und somit in der Haltung irgendwann ändern. Ob im Beruflichen wie im Privaten. Nach Corowahn sind radikalere Veränderungen eher «toleriert». Ob man sich vom Beruf oder Partner trennt, man ist nun eher verstanden. 

    Doch das grosse gesellschaftliche Leben wird bald wieder normalisiert. Für eine grosse gesellschaftliche Veränderung war Corowahn doch zu gezähmt. Die Einschränkungen bedeuten lediglich gewisse Entbehrungen; die analoge Kulturindustrie war verboten, die digitale konnte stattdessen expandieren. 

    Auch die Todeszahlen waren nicht so erheblich. Nicht jede Familie hat einen Sohn geopfert. Nicht jede Familie hat eine Tante oder einen Onkel verloren. Es sind bloss Einzelfälle, die zerstreut und nicht signifikant sind. Keine verlorene Generation, kein Massensterben, keine geschundenen Jahrgänge waren die Folge.

    Der Kampf gegen den unsichtbaren Feind war auch keine klassische heroische Tat, die alle verbunden hat. Stattdessen verkümmern irgendwelche Forscher in irgendwelchen Laboratorien und tüfteln dort an einem möglichen Impfstoff. Die Mehrheit der Menschen ist hingegen ohnmächtig, ausgeliefert und weiss sich nicht zu schützen.

    Es ist keine «Kraftakt» der Gesellschaft, um Corowahn zu besiegen, sondern, wenn überhaupt, die Tat eines kleinen Teams. Und überhaupt, noch ist Corowahn nicht erledigt. Vielmehr bedroht uns Corowahn weiterhin, obgleich latent, unsichtbar, im Verborgenen und lustigerweise mit einer Verzögerung von zwei Wochen. Es ist stets eine Rückblende.

    Ich kann das Bedürfnis nach Eskapismus sehr gut nachempfinden. Auch ich hege den Wunsch, manchmal kontrolliert unkontrolliert zu sein. Die Menschen waren seit jeher für allerlei Rausche empfänglich; seien es Künste, Drogen oder Geselligkeiten. Die kurze Versorgungslücke wird rasch wieder gedeckt sein. 

    Ich freue mich auf die nächsten Lockerungen und aufs grosse Vergessen.


  • Gefangen in Basel

    Ich bin hier in Basel gefangen. Ich werde lebenslänglich hier fristen müssen. Ich kann nie mehr anderswo wohnen. Die Steuern belasten mich nicht so sehr. Die KVG-Prämien sind ebenfalls bereits angewöhnt. Den weiten Arbeitsweg kann ich mit meinem unangepassten Laptop bewältigen. Die Mädchen wären technisch ebenfalls hübsch. 

    Dennoch bin ich hier gefangen. Ich vereinsame hier. Ich habe eigentlich niemanden. Ich bin ohne Familie, ohne Freunde und ohne soziale Bindungen hier eingesperrt. Solange ich tagsüber herumreise, unterwegs bin, beruflich Menschen begegne, kann ich problemlos abends heimkehren und einsam sein. Ich kann dann mich distanzieren und zurückziehen.

    Aber in dieser Ausnahmesituation harre ich meiner Wohnung. Ich kann niemanden spontan treffen, irgendwie mich verabreden und einfach plaudern. Nicht einmal die Kassierin versteht mich, weil sie Elsässerin ist. Vor der Ausnahmesituation versteckte mich in einer Bar, dort lauschte ich jeweils den Gesprächen der anderen Gästen. Ich notierte ihre Gedanken.

    So konnte ich mich jeweils einseitig mit Basel-Stadt verknüpfen. Ich konnte spionieren, meine Gedanken vervollständigten Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile. Diese Bar ist geschlossen, sie wird vorerst nicht öffnen. Vermutlich ist sie bereits bankrott. Das Gastgewerbe ist herausgefordert, eventuell unterstützt der Staat.

    Grundsätzlich ist mir Einsamkeit nicht fremd. Tagsüber berausche ich mich in meinem Job, abends vereinsame ich. Teilzeit übe ich mich als Vater einer Tochter mit speziellen Bedürfnissen. Ich führe sie jeweils aus. Die Spielplätze sind sehr üppig ausgestattet. Wir können das Angebot jedoch nicht nutzen.

    Auch dort kann ich mich nicht mit den Einheimischen verbinden. Meine Tochter wackelt nicht herum, sie spricht niemanden an, sie startet keinen Erstkontakt. Stattdessen werden wir beäugt oder ignoriert. Keine Gespräche können so wachsen. Wir durchqueren die Parks, wir weichen den glücklichen Familien aus. Wir leben in unserer Welt. 

    Wobei meine Tochter ihre Welt nicht als Gefängnis erlebt. Sie hat bloss diese. Sie weiss nichts, sie spürt bloss, dass ich nicht glücklich bin. Daher schnappt sie dauernd meine Hand und will mit mir schmusen. Das tun wir. Auch im Park. Eine Berührung kann einen beruhigen und wortwörtlich berühren.

    Dennoch bin ich einsam. Der Gedanke, hier in Basel-Stadt zu vereinsamen, ist sehr unbehaglich. Wenigstens hier vereinsamen als Kleinlützel, versuche ich mich zu beschwichtigen. Hier könnte man technisch Menschen kennenlernen. Die Region ist umfangreich und trinational. 

    Momentan sind die Grenzen geschlossen. Die vergnügungssüchtigen Lörracher und Mühlhausener bleiben daheim. Die Baselbieter verbarrikadieren sich in Itingen und Otelfingen. Was gerade hier sich aufhält, ist wohl ausschliesslich Basel-Stadt oder stammt ausm ersten Agglomerationsring zwischen Birsfelden und Allschwil. 

    Vermutlich müsste ich mich bemühen, Menschen kennenzulernen. Vermutlich schon. Doch ich bin ziemlich scheu, verschlossen, weil gleichzeitig extrovertiert. Ich bin ein introvertierter Extrovertierter. Ich kann bloss gut beobachten, aus sicherer Distanz, ich bin ganz Voyeur der Stadt. Dooferweise gefalle ich mich darin.


  • Mein Studium

    Ich studiere nicht offiziell, ich bin nirgends eingeschrieben. Ich habe meine letzte Weiterbildung bekanntlich abgebrochen, das hier aber nicht aufgearbeitet. Ich hatte alle Module absolviert, alle bestanden, wertvolle Beziehungen etabliert, die ich bis heute erhalten habe. Ich hätte bloss noch eine grosse Arbeit verfassen müssen.

    Ich hatte keine Lust dazu. Sie war sinnlos geworden. Tragischerweise musste ich die Weiterbildung selber finanzieren. Ich habe einerseits die Schulkosten geschultert, das waren knapp 40’000 CHF. Ausserdem habe ich die Arbeitszeit nachträglich übernommen nach langwierigen Auseinandersetzung mit meinem ehemaligen Arbeitgeber.

    Ich habe ungefähr 50’000 CHF ausgegeben, wovon aber mein aktueller Arbeitgeber mir knapp 14’000 CHF entschädigte. Dennoch immer noch Geld, das ich natürlich längst nicht mehr besitze, sondern stattdessen ein Netzwerk knüpfen konnte und nun einige Zertifikate mehr aufzählen kann. Diese legitimieren mich seither, über gewisse Themen zu beraten.

    Ich hätte auch eine weitere Weiterbildung planen können. Ich war und bin weiterhin durstig. Ich habe hier und da kleinere Weiterbildungen absolviert. Diese waren stets fokussiert, maximal vier Tage lang. Ich musste höchstens eine Prüfung schreiben, keine Arbeit oder etwas Vergleichbares. Immerhin.

    In diesem Jahr habe ich eine neue Weiterbildung gestartet, die derzeit aber nicht genehmigt ist. Also ich muss bei meinem Arbeitgeber noch intern dafür werben und meine Kollegen überzeugen, das sei eine gute Idee. Die Mehrheit meines Arbeitgebers stützt meine Weiterbildung, doch sie ist gleichzeitig umstritten.

    Ich studiere Philosophie. Für zeitgemässe Materialisten liest sich das wie eine Selbstverwirklichung. Das ist es sie auch gewissermassen. Ich leiste mir den Luxus, nachdenken und alte Bücher lesen zu dürfen. Und ich zahle noch. Jede Stunde ist penibel abgerechnet. Ich habe eine Professorin angefragt. Sie hat eingewilligt.

    Das ist harte Arbeit. Ich muss lesen, ich muss mich auseinandersetzen. Manchmal zweifle ich wieder an meinem Beruf, das verringert meine Motivation und Leidenschaft. Und gleichzeitig soll mein Arbeitgeber mir diese Weiterbildung gönnen. Ich kann meinem Arbeitgeber nicht verdenken, wenn er meine Weiterbildung ablehnt.

    Derzeit ist noch nichts entschieden. Ich muss bald vor versammelter Mannschaft antreten und mich darum bewerben. Falls ich die Kosten privat bewältigen muss, kann ich diese kaum von der Steuer absetzen. Das Steueramt wird mir gewiss mitteilen, das sei Liebhaberei und nicht betriebsnotwendig. So sei es.

    Ich habe mittlerweile ohnehin so viel Geld in meine Weiterbildungen investiert, dass ich längst ein Häuschen im Mittelland mit dem notwendigen Eigenkapital ausstatten könnte. Diese weiteren 8’000 CHF werde ich irgendwie verkraften und deswegen nicht verhungern. Ich müsste bloss anderswo meine Ausgaben reduzieren.

    Die Professorin ist meine Privatdozentin. Sie stellt Aufgaben, ich versuche zu liefern. Dann philosophieren wir gemeinsam das Gelesene. Man könnte alles auch im Internetz nachlesen. Dennoch entstehen neue Gedanken und Ideen, die in der Einsamkeit im Chrome selten fruchten. Das Gespräch entscheidet.

    Natürlich kann ich selber zum Diskurs nichts beitragen. Ich kann zuhören, empfangen, lernen und meine Positionen hinterfragen. Das genügt mir. Ich habe keinen akademischen Anspruch. Ich will diese Erkenntnisse dann in meinen Alltag transportieren. Ich will berufliche Gleichnisse schaffen.

    Ich konnte den Kategorischen Imperativ bereits als Gleichnis im Berufsalltag veranschaulichen. Ich will mehr davon. Ich will die Erkenntnis der Philosophie übersetzen, damit sie allgemein verständlicher sind im Berufsalltag. Ich will nicht aufklären oder belehren oder bekehren.

    Ich will bloss, dass die Menschen zufriedener und sinnerfüllter arbeiten können und nicht im 21. Jahrhundert massenhaft zusammenbrechen und Identität verlieren müssen in ihren sinnlosen und befristeten Jobs. Ich werde hier ganz lokal und klein einen winzigen Beitrag leisten. Ganz minim. Die Philosophie hilft bloss.

    Das erklärt, warum ich Philosophie derzeit «studiere». Ich fühle mich eher als Lehrling denn als Student. Ich bin nicht eingekesselt von anderen Studenten, ich muss mich nicht beweisen und rechtfertigen. Ich bin einfach ein neugieriger und interessierter Lehrling, der alles wissen und erfahren möchte.

    Ich habe diese Weiterbildung als Experiment betitelt und mit einem Kostendach gesichert. Falls alles scheitert, also keinen kommerziellen Nutzen für meinen Arbeitgeber einzahlt, wenngleich bloss verzögertn, dann werde ich das Experiment abbrechen und eine «klassische» Weiterbildung fokussieren.


  • Mein Kindchen ist schwerstbehindert

    Ich darf verkünden, dass mein Kindchen schwerstbehindert ist. Ich tue dies erstmals explizit und ohne Umwege. Das Kindchen wächst mit normaler Lebenserwartung auf. Geistig aber wird das kleine Mädchen stets auf dem Niveau eines Säuglings harren. Gehen und kommunizieren werden schwierig zu bewältigen.

    Die exakte Ausprägung der Behinderung ist noch nicht absehbar. Aber die Behinderung existiert. Sie war eine spontane Mutation der Eizelle, also nicht vererbt. Eine Laune der Natur. Das kann in wenigen Fällen vorkommen. In der Schweiz bekennen sich ungefähr zwanzig Familien zu dieser Erkrankung.

    Fragestellungen wie Berufsausbildung, erste Liebe, Erziehung sind nunmehr irrelevant. Stattdessen muss man ein Heim wählen und entsprechende IV-Fälle einreichen, weil kein allgemeiner für diesen Fall existiert. Viele Therapien, viele besorgte Angestellte der Staatsdienste und privaten Stiftungen, viel Mitleid bilden den Alltag.

    Das Kindchen selber kann nichts beklagen. Es lächelt, es spielt, es ist fröhlich. Es vermisst nichts. Es sieht zwar nicht gut, es kann nichts halten, es kann weder gehen noch krabbeln, weder Mimik, Gestik noch Kommunikation äussern. Aber es kann mit einfachsten Berührungen stimuliert werden und ist dann vollends zufrieden.

    Es nörgelt und jammert nicht. Es kennt keine trotzige Phase. Es ist rundum glücklich und zufrieden. Es kennt drei Bedürfnisse: Einsamkeit, Hunger und Müdigkeit. Es fordert die Befriedigung dieser drei Bedürfnisse. Mehr Bedürfnisse spürt es nicht. Diese sind grundsätzlich leicht zu befriedigen.

    Die alltäglichen Aufgaben werden immer anstrengender. Das Kindchen wächst in die Länge, es wird immer schwerer. Derzeit kann ich es noch problemlos heben. Das Mobiliar hält der Belastung stand. Doch in einigen Jahren muss das Mobiliar verstärkt werden: ein Hebelift für die Badewanne, ein versenkbares Bett, eine stabile Wickelkommode.

    Der Pflegeaufwand nimmt also zu. Ich hoffe, dass der Pflegeaufwand mich nicht überfordere. Weil ansonsten muss eine professionelle Pflegekraft unterstützen – oder das Kindchen muss in einem spezialisierten Heim platziert werden. Das erhöht die Komplexität des Alltags. Das verlangt weitere Entbehrungen.

    Wie ich selber damit umgehe? Ich akzeptiere. Ich kann das nicht beeinflussen. Bloss die Angehörigen müssen leiden. Das Kindchen nicht. Das tröstet. Ich bin unmittelbar betroffen. Ich habe zwar eine Tochter, aber irgendwie auch nicht. Keine «normale» oder «vergleichbare». Ich habe mich daran gewöhnt.

    Mein Wunsch war, dass sie sprechen respektive interagieren kann. Mindestens das habe ich original angefordert. Doch vermutlich wird sie das niemals mir schenken können. Das Kindchen kann sich nicht einmal von mir verabschieden. Man weiss nicht, ob sie mich kennt, spürt oder wahrnimmt. Vermutlich nicht.

    Ich merke das, wenn ich das Kindchen in die Kita bringe. Dort sind andere Kinder, die ihre Eltern erkennen, sich freuen und so weiter. Mein Kindchen ist einfach stumpf dort. Ich berühre es immer zehn Sekunden lang. Dann lacht es. Ich befürchte, dass tut sie nicht meinetwegen. Sondern ist Teil ihrer Erkrankung.

    Ich nehme das Kindchen auf den Arm. Mittlerweile sieht es gefühlt ein wenig besser. Es versucht mich anzuschauen. Aber es funktioniert nicht. Immerhin grinst das Kindchen. Dann fahren wir heim. Die anderen Kinder, die beweglich sind, mit ihren Eltern kommunizieren, deprimieren mich schon. Aber ja, was soll ich tun?

    Ich kann es bloss aushalten. Die schönsten Momente sind im Bett mit dem Kindchen. Wenn ich es einfach stundenlang berühren kann. Das Kindchen freut sich, es lächelt. Es greift nach mir, nach meinen Haaren und Finger. Ja dann ist alles gut. Dann vergesse ich die hüpfenden anderen Kinder. Die Realitätsprüfung erlebe ich nur in der Kita.

    Schnell hin und schnell wieder weg, ich verweile nie zu lange dort. Zehn Sekunden Berührung, dann gehen wir. Überhaupt meide ich Orte, wo andere Kinder sind. Das ist der lokale Park, der lokale Zoo. Mein Kindchen und ich im Zoo. Wir beide interessieren uns kaum für die Tiere. Aus unterschiedlichen Gründen zwar.

    Das einzige, was sie anregt, ist das Vogelhaus. Dort wird gezwitschert. Lustige Geräusche. Das mag sie. Sie ist selber eine Geräuschmaschine. Sie kann zwar bloss etwa fünf unterschiedliche Geräusche. Ich weiss nicht einmal, ob sie weiss, dass sie selber Geräusche macht und deswegen lachen muss. Aber sie mag es. Mag Geräusche.

    Glücklicherweise kann ich ebenfalls Geräusche erzeugen. Eventuell kann sie mich so wiedererkennen? Vermutlich nicht. Dennoch imitiere ich so oft als möglich ihre Geräusche und will damit ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln, für das sie eigentlich gar nicht empfänglich ist. Ich lebe in der Illusion der Interaktion.

    Weil sie nicht so gut sieht, kann man sie visuell nur mit Hilfsmittel reizen. Das funktioniert aber perfekt. Leuchtende Sachen liebt sie. Dann macht sie grosse Augen, dann versucht sie, ihre Augen zu fokussieren. Sie kann zwar nicht gezielt danach greifen, aber bemüht sich. Es sieht schon traurig aus, wenn sie nichts greifen kann.

    Ja, ich bin mindestens einmal täglich deprimiert deswegen. Mindestens einmal. Manchmal auch mehrmals. Ich versuche, meinem Kindchen das Leben zu erleichtern und ihre drei Grundbedürfnisse so gut als möglich zu befriedigen. Es ist eine klassische selbstlose Liebe, wo ich nichts erwarten kann.

    Das Kindchen hat mich allerdings radikalisiert. Ich bin gleichgültiger geworden. Ich bin gleichmütiger geworden. Und ich will weniger Kompromisse riskieren. Ich will mein Leben nicht noch mehr einschränken. Ich habe mich auch vom Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen, verabschiedet.

    Da ich eh einsam sterben werde, kein Kindchen mich bedauert, kann ich ebensogut einsam leben. Denn das arme Kindchen wird auch niemanden haben, der sie begleiten kann. Denn die Eltern sind dann längst tot. Das Kindchen ist alleine, fristet in irgendeinem Heim, lächelt und stirbt einfach. Völlig ohne Aufmerksamkeit und Würdigung.


  • Entweder-oder

    Entweder entscheide ich mich für die Paarbeziehung. Oder ich entscheide mich dagegen. Mir ist die Wahl auferlegt worden. Das war nicht so geplant. Denn ich will mich nicht entscheiden. Weil wenn ich entscheiden muss, dann entscheide ich mich gegen die Paarbeziehung. Weil ich darin keinen Sinn und keine Identität finde.

    Gewiss ist meine Paarbeziehung ein wenig komplizierter. Wir haben ein gemeinsames Schicksal zu bewältigen. Bekanntlich bin ich Vater geworden. Die Angehörigen leiden an einem sehr selten Geburtsgebrechen des Kindes, das kein «normales» Leben erlaubt. Stattdessen sind multiple IV-Fälle zu beantragen. Das Kindchen bemerkt davon nichts.

    Als Paar haben wir uns auch einigermassen in Basel sozialisiert. Auch ich bin einigermassen integriert, nicht vorbildlich. Aber immerhin. Die Wohnung ist schick, die Lage ist ausgezeichnet, das Mobiliar ausgewählt. Alle weltlichen Dinge sind geregelt, Auto vorhanden, Versicherungen platziert, auch ein gütlicher Vorsorgeplan ist getroffen.

    Die Vernetzung innerhalb beider Familien ist okay. Wir sind keine überschwänglich liebende Familie, aber wir vertragen uns einigermassen. Wir haben nichts Fundamentales zu bestreiten. Kurzum, technisch alles einwandfrei. Also muss ich überhaupt eine Entscheidung forcieren?

    Entweder ich verpflichte mich nun zu dieser Paarbeziehung. Oder ich verneine sie komplett. Beide Optionen folgern Konsequenzen. Ich kann nicht fortfahren wie bisher. Ich muss etwas ändern. Beide Optionen sind beschwerlich und schmerzlichst. Entweder-oder. Ich kann mich nicht befreien, ich kann die Entscheidung nicht vertagen.

    Das gemeinsame Schicksal mit dem eingeschränkten Kindchen beeinflusst meine Entscheidungsfindung erheblich. Alleine kann ich das Schicksal nicht optimal bewältigen. Ich müsste alle Hilfsmittel auch beschaffen und einrichten. Auch einfachere Aufgaben wie Wickeln, Füttern und Anziehen sind zu zweit komfortabler zu bewerkstelligen.

    Alleine allerdings werden die täglichen Aufgaben immer anstrengender. Ich prognostiziere, dass ich in einigen Jahren das Kindchen in ein Heim abliefern muss. Diese ohnehin gegebene Frist könnte die Paarbeziehung noch um einige Jahre zusätzlich strecken. Das bedauere ich sehr, kann das aber selber kaum aufhalten.

    Ebenso sind die sozialen Interaktionen in Basel ohne Paarbeziehung verloren. Alle bisherigen Kontakte werden mich als verantwortungslos, egoistisch und desolat verbrämen. Ich kann’s nicht einmal verübeln. Fortan würde ich Basel lediglich schlafen, eventuell trinken, manchmal mit dem Kindchen spazieren. Alleine sein.

    Ich kann mir ein alleinerziehendes Betriebsmodell zwar durchaus vorstellen, aber nicht im Kontext der Geburtsgebrechen des Kindchens. Von den wenigen bekannten Fälle in der Schweiz lebt nur eine «Familie» in der Schweiz mit derselben Krankheit getrennt. Die restlichen zwanzig Familien sind – zumindest offiziell – intakt.

    Ich kann das Kindchen wegabstrahieren für die Entscheidungsfindung, damit das mich nicht beeinflusst. Aber die Entscheidung muss ich holistisch erledigen. Ich kann einzelne Aspekte nicht verdrängen. Ich könnte die Paarbeziehung also akzeptieren, wenn ich vor allem die Bedürfnisse des Kindchens berücksichtige.

    Doch meine Bedürfnisse sind ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Ich muss bereits jetzt des Kindes wegen entbehren, was naturgemäss mir wichtig wäre: Nachlässigkeit, Verantwortungslosigkeit, Masslosigkeit, Widerstand, Sinnlosigkeit, Verzweiflung, Weltschmerz. Das Kind erzieht mich, das Kind sittet mich.

    Ohne Kindchen könnte ich selbstbestimmter entscheiden also. Ich müsste keine Kompromisse annehmen. Das Kindchen legitimiert den Kompromiss, den ich naturgemäss verabscheue. Ich lebe bereits jetzt in einem grossen Kompromiss. Zu viele Kompromisse sprengen meine Identität. Also muss ich mich wieder radikalisieren.

    Mir ist bewusst, dass Paarbeziehung Arbeit bedeuten. Dass Paarbeziehung per Definition grössere Kompromisse sind. Darin wird niemand wirklich glücklich, aber auch nicht komplett unzufrieden. Deswegen sind Paarbeziehungen auch so erfolgreich. Sie zwingen einen zu einer gewissen Mittelmässigkeit, Ausgeglichenheit und Stabilität.

    Die nicht-existente Gesellschaft fragt solche Werte nach, damit wir wiederum besser funktionieren können. Funktionieren heisst, auf den ökonomischen Zweck reduziert zu werden. Gute, mittlerweile auch aufgeklärte und sensible Konsumenten zu sein, finanziert durch eine angemessene Lohnabhängigkeit, die irgendwie Sinn stiftet.

    Zwar gilt die Liebe weiterhin als Widerstandsnest gegen die orange Leistungsgesellschaft. Dennoch sind die Paarbeziehungen als orange bishin grüne Zweckgemeinschaften mutiert, die bloss eine konstante Leistung garantieren sollen. Die Paarbeziehung ist keine Quelle der Liebe, sondern des Anstands, der Sitte, der Moral und der Leistungsbereitschaft.

    Ich will dagegen kompromisslos leben. Ich will lieben, wie die Liebe fällt. Ich will mich nicht lebenslänglich versteifen. Ich fürchte mich nicht vor Einsamkeit im Alter. Niemand kann mich beschützen, niemand kann mich retten, niemand kann mich zum Besseren kehren. Ich muss das akzeptieren – oder mich organisch und nicht invasiv ändern.

    Entweder-oder. Ich bin zur Entscheidung genötigt. Was will ich? Ich möchte aufrichtig fürs Kindchen sorgen. Sooderso. Ich möchte keine Kompromisse riskieren. Sooderso.


  • Immerzu alleine

    Ich bin alleine auch dann, wenn ich nicht alleine bin. Ich fühle mich oftmals alleine. Wobei ich mich darüber nicht beschwere. Weil eine Grundeinsamkeit das Hintergrundrauschen des Lebens bildet. Ich bin überzeugt, dass wir alle vereinsamen. Trotz oder eben gerade wegen Paarbeziehungen. Die alles durchdringende soziale Kälte hat mich längst im Griff.

    Ich bin sozial erkaltet. Ich habe Beziehungen reduziert. Mit wenigen Menschen fühle ich mich wirklich und tief verbunden, auch sprachlos verbunden. Ich kann einfach in ihrer Nähe sein und mich wohl, geborgen, beruhigt und entspannt fühlen. Ich muss mich nicht beweisen, rechtfertigen oder erklären. Sein im Dasein quasi.

    Ich habe diesen Zustand in Paarbeziehungen selten erlebt. Wenn, dann bloss kurzweilig. Die wirklich tiefen Beziehungen überdauern Jahrzehnte. Diese aber sind nicht als klassische Paarbeziehungen motiviert. Sondern sind schön intrinsisch. Die Motivation darunter ist ehrlich, tief und frei von gemeinen Beziehungskonflikten.

    Ohne diese Beziehungen fühle ich mich alleine. Alleine im Kopf, alleine in Gedanken, alleine im Sehnen, alleine im Versuch, mit Alkohol mich zu betäuben. Unsere Gesellschaft ist ohnehin fragmentiert, vereinzelt, dass man kaum noch etwas als Gesellschaft generalisieren kann. Das entschuldigt nicht, das erklärt bloss.


  • Das zweiunddreissigste Lebensjahr

    Ich unterbreche eine repetitive, aber notwendige Arbeit. Ich vergesse meinen prallen Backlog. Ich versuche innezuhalten, meinen morgigen Geburtstag zu reflektieren. Morgen zähle ich zweiunddreissig Jahre. Ich bin angejährt, ich bin gealtert. Meine Haare ergrauen, mein Bauch schwillt, ich schnarche regelmässiger. Soweit bekannt.

    Grundsätzlich bin ich zufrieden. Ich habe zwar einige Leichen produziert, ich habe einige Menschen enttäuscht; ich mag nicht zählen. Ich habe durchaus Leiden verursacht. Andererseits habe ich viele Menschen beeinflusst, habe Gutes geschaffen, ich habe inspiriert und begeistert, ich habe immer wieder motiviert.

    Ich habe auch geholfen, war loyal, verständnisvoll, geduldig, wo andere längst davonrannten, wo andere sich längst trennten. Gewiss ich nachträglich anders reagiert, gezielter unterstützt, einige Konflikte anders geschlichtet, nicht gewisse Muster wiederholt, nicht gewisse Menschen ausgenutzt. Ja, späte, aber richtige Einsicht.

    Ich kann gewissen Erfolg bilanzieren. Mein Lebenslauf kann durchaus verblüffen. Kürzlich wollte mich F., der seine Lehrzeit im selben Unternehmen abdiente, vor versammelter Alumni bei Bier und Burger mich überhöhen. Ich konnte bloss herunterspielen, relativieren und Demut wahren. Weil sonst hätte ich meinen Selbstwert überladen.

    Vermutlich kann ich faszinieren. Manchmal überrasche ich mich selber, inwieweit ich mich verändern, anpassen und lernen kann. Aber wiederum wiederhole ich mich gerne, ich verfalle denselben Mustern. Wenn ich unruhig bin, irre ich. Wenn ich sehnsüchtig bin, erkalte ich. Ich bin freilich unvollkommen und stets unvollendet.

    Also, zweiunddreissig Jahre. Mein kleiner Zirkel, verstreut lebend, aber ausm Mittelland stammend, teilt mein Schicksal. Wir müssen resümieren. Wir müssen schlussfolgern. Wir müssen neue Lebensabschnitte riskieren. Wir können nicht weiterhin uns im Tag verwirklichen, sondern müssen allmählich das Gross-Ganze planen.

    Denn wir vergehen allmählich. Ich muss mich beeilen. Ich erlebe nun nochmals dreissig Jahre ähnlicher Blüte, mit hoffentlich höherem Nettoeinkommen. Doch der körperliche Zerfall limitiert die Schaffenskraft. Bald beansprucht mich eine kleine Tochter. Das Leben hier in Basel fordert. Die Firma will auch, der kleine Zirkel, der Master, alles will mich.

    Ich spüre bereits jetzt, dass mir die Momente fehlen, dass ich zurücklehnen und entspannen kann. Ich flüchte stattdessen ins Velo. Ich werde tausende Franken in ein überschickes Elektrovelo investieren. Damit durchlüfte ich bloss, aber hintersinne damit nicht. Du kannst nicht nachdenken, wenn du radelst, wenn der Sport alles überdeckt.

    Sport ist keine Lösung, Sport ist bloss Eskapismus, gleichwertig wie Alkohol, ebenfalls mit Nebenwirkungen, es könnte mich ebenfalls töten. Aber im Sport vergesse ich, muss nichts nachdenken, weil ich nicht kann, weil ich mich nicht konzentrieren kann. Meine Hirnaktivitäten werden aufs Wesentlichste reduziert. Ich funktioniere.

    Doch mit zweiunddreissig will nicht nur funktionieren. Ich will diesen Blog weiterhin nutzen. Ich muss begreifen, dass ich trotz Familie weiterhin Zeit reservieren sollte: für die gewisse Stille, für die gewisse Einsamkeit, nicht die velofahrende Hast, nicht die alkoholisierte Manie, keinen Betrug bitte.