Alles vergeht. Ziemlich abgedroschen. Ich weiss. Vergänglichkeit war seit jeher mein grosses Motiv. Ich war mir die Vergänglichkeit von Liebschaften, Beziehungen, Familie, aber auch von Eigentum und Ideen stets bewusst. Deswegen will ich auch so vieles davon bewahren respektive konservieren und mich stets erinnern.
Ich kann aber nicht alles aufheben. Manches zertrümmerte ich eigenwillig. So löschte ich ganze Erinnerungen. Ich strich komplette Sequenzen aus meinem Lebenslauf. Oder ich ignorierte bewusst gewisse Erfahrungen respektive Entbehrungen. Ich beschönigte dies Verhalten als das Recht aufs Vergessen.
Dabei war ich aber stets in der «Kontrolle». Ich habe selber definiert, was ich aufhebe, ausschmücke oder was ich vergesse, bishin verdränge. Ich war selbstwirksam. Extern ausgelöste Verluste waren selten. Natürlich war ich auch unglücklich verliebt, einseitig. Natürlich wurde mir die Arbeit gekündigt oder ich habe etwas verloren.
Das waren eben seltene Momente. Ich schrieb meine Erinnerungen grösstenteils selber. Ich war ganz Herr meiner selbst – abzüglich meiner Emotionen und meinen natürlichen Verblendungen meiner Wahrnehmung, weil ich mir selber manchmal auch misstraue.
Nun erleide ich einen Verlust ohnegleichen. Er war weder geplant noch beabsichtigt – ich war überhaupt nicht in Kontrolle. Dieser Verlust konnte ich auch nicht verhindern oder verzögern. Ich war klassisch ohnmächtig. Ich durfte den Verlust eines Lebens beklagen, das ich sehr intensiv begleitet und gepflegt habe.
Ich habe damit auch den Sinn und die Aufgabe meines Lebens verloren. Ich konnte bislang alle meine Aktivitäten soweit lesen, dass sie mich stärkten oder unterstützen, den Sinn und die Aufgabe meines Lebens zu stützen.
Das ist wohl der grösste und schlimmste Verlust, den ich bisher erlitten habe. Alle andere Verluste sind bloss «Verlüstchen». Obwohl ich in Vergänglichkeit geschult, ja gewissermassen diszipliniert bin, hat mich dieser Verlust ziemlich aufgewühlt – und tut es weiterhin wohlgemerkt. Es war nämlich die Liebe meines Lebens.
Alles vergeht – diese Phrase beeindruckt mich nicht mehr. Ich bin mit der ultimativen Vergänglichkeit des Lebens konfrontiert. Alsbald werde ich sterben – oder meine Liebsten zuvor. Ich habe die Mitte des Lebens bekanntlich überschritten. Ich altere. Mein Körper ist geschunden. Ich bin verbraucht, abgekämpft. Zigaretten, Red Bull und Alkohol halten mich funktional.
Prominente Religionen glauben an einen Kreislauf des Lebens. Damit tricksen sie die Vergänglichkeit. Sie negieren, dass etwas endet. Nichts endet – das Leben scheint als ewige Wiederkehr. Das tröstet. Die Unendlichkeit unserer Existenz besänftigt uns. Sie würde auch mich trösten – leider glaube ich nicht daran.
Mit dem Tod endet das individuelle Leben. Gewiss überdauern Erinnerungen der Mitmenschen den individuellen Tod. Ich werde mich beispielsweise an meinen Verlust erinnern. Und so überlebt diese Person – als Erinnerung. Doch ihre physische Existenz ist erloschen. Sobald ich sterbe, werden sich sicherlich auch noch Menschen an mich erinnern. Nicht so viele gewiss, aber immerhin einige. Oder ich sterbe «als Letzter». Dann erinnert nichts mehr an mich. Bloss die Nachwelt überwindet den individuellen Tod.
Ich kenne die Rationalisierungstechnik, indem man wiederholt, nichts sei wirklich «weg», solange man sich erinnere. Dem widerspreche ich nicht. Solange ich mich erinnere, lebt eben beispielsweise diese verlustig gewordene Person fort. Dennoch habe ich Sinn und Aufgabe verloren, ich muss eine Beziehung missen. Dennoch habe ich eben einen «Verlust».
Und deswegen muss ich mich damit auseinandersetzen.
Man könnte mir vorwerfen, dass ich meinen Sinn und meine Aufgabe zu sehr von einer Person abhängig gemacht habe. Schliesslich war ich ja auch nur «faul», und habe dadurch die nächstbeste Gelegenheit eines Lebenssinnes wahrgenommen. Ich habe mich natürlich auch gut darin eingerichtet, mein Leben dahingehend optimiert.
Andererseits, was ist gegen Einfachheit einzuwenden? Der Sinn des Lebens ist recht umstritten, man ist sich selten einig – und das ist auch gut so. Ich habe vor mehr als acht Jahren hier geschrieben, der Sinn des Lebens sei es, Beziehungen zu gestalten. Das habe ich gemacht.
Was nun folgen mag, ist erneute «Kontrolle». Es geht nicht darum, etwas zu vergessen. Sondern ich will lediglich meinen Sinn abermals gestalten. Über den Verlust werde ich hingegen nie «hinwegkommen». Das muss man auch nicht; denn alles Leben vergeht. Man kommt, um zu gehen – kitschig formuliert. Der Tod krönt das Leben. Der Tod finalisiert das Leben.
Durch die Erinnerungen der Nachwelt verewigt der Tod sogar das Leben. Jetzt kann man sich bloss noch erinnern: an das Gute, Schöne und Erfreuliche. Nichts mehr muss das erloschene Leben mehr trüben. Keine Spannungen oder Konflikte relativieren das gemeinsam Erlebte. Jetzt ist man wieder «in Kontrolle», ich bin wieder «in Kontrolle». Ich kann meine eigenen Erinnerungen reproduzieren.
Somit verwebe ich den Verlust in meine ohnehin sorgsam gewählten Erinnerungen. Damit trotze ich gewissermassen der gefühlten Vergänglichkeit. Jedoch real existiert die Vergänglichkeit weiterhin. Sie ist nicht aufzuhalten.
Schreiben Sie einen Kommentar