Monat: April 2020


  • Die Kind-Eltern-Beziehung

    Menschen, die es gut meinen, sind die gefährlichsten. Alle Eroberer kamen stets im Frieden, alle Missionare stets in grösster Frömmigkeit und jede Mutter stets mit den besten Absichten. Die Beziehung zwischen Kind und Mutter ist ohnehin bereits belastet durch die Entbehrungen der Schwangerschaft und Schmerzen der Geburt der Mutter. 

    Die reinen Opportunitätskosten der Aufzucht sind kaum zu beziffern und können durch organisierten AHV-Erziehungsgutschriften mitnichten abgegolten werden. Jedes Kind hat bereits seit Geburt solche Lasten zu schultern. Entweder verpasst die Mutter einen kritischen Karriereschritt. Oder sie erkrankt als Hausfrau psychisch und moralisch. 

    Die Hälfte aller Eltern trennen sich früher oder später. Das gemeinsame Kind ist oft als Vorwand einer Zweckbeziehung missbraucht. Das Kind, seit Geburt moralisch aufgeladen, muss schlimmstenfalls das Paarunglück der Eltern verantworten, die in eine Beziehung sich zwängen, die ohne Kind längst sich aufgelöst hätte. 

    Es ist verzeihlich, dass auch Eltern überfordert sind. Niemand hat sie ausgebildet. Sie selber konnten bloss von ihren Eltern lernen. Das Leben ist naturgemäss komplex. Eine Droge, die uns alle sediert und maximal vereinfacht, ist momentan nicht mehrheitsfähig. Die Beziehungen zwischen den Menschen werden immer anstrengender und mühsamer. 

    Die Lebensmodelle sind fragmentiert. Vorbildfunktionen sind überkommen. Man kann überall und gleichzeitig nirgends sich orientieren. Der Staat hat die Aufgaben der Lebensschule erfolgreich delegiert – oder nie innegehabt. Wir sind alle irrend, suchend und verzweifeln mitunter mehr oder weniger offensichtlich.

    Oftmals sind die Vorwürfe einseitig. Kein Kind beklagt sich jemals bei der Mutter, dass es vernachlässigt wurde. Die Mutter ist der erste Bezugsperson eines jeden Menschen. Das fördert die Demut des Kindes. Doch jede Mutter ist geübt, das Kind vorwurfsvoll zu konfrontieren, dass sie das eigene Leben fürs Kind geopfert habe. 

    Oft spricht die Mutter nicht bloss in Vergangenheitsform, sondern bezieht sich auch auf die Gegenwart. Es genügt also nicht, über Schwangerschaft, Geburt und Aufzucht zu wehklagen, sondern auch für die aktuelle, persönliche und/oder exakte Misere der Mutter behaftet zu werden. 

    Man kennt das Verhalten auch als psychologische Erpressung: Das Kind mit Schuldgefühlen solange zu belangen, bis das Kind die eigene Bedürfnisse gegenüber der Eltern zurückstellt und sich unterordnet, damit der Kindesbeherrschungstrieb der Eltern befriedigt ist. Denn alle Eltern wollen ihre Kinder «kontrollieren» und sie in einer Ko-Abhängigkeit einfangen. 

    Das ist ganz normal. Wie soll man denn etwas «loslassen», worin man so viel investiert hat? Alle diese Entbehrungen sind vergebens, sobald die Ursache der Entbehrung sich befreit und lossagt. Daher ketten Eltern ihre Kinder solange als möglich – entweder finanziell oder mindestens moralisch, fürdass der Narzissmus der Eltern gestillt ist. 

    Die Mutter hüllt ihren Narzissmus aber stets mit guten Absichten. Sie sorge sich bloss, sie wolle doch bloss das Beste bezwecken. Keine Mutter begreift aber, dass das Zeitfenster mütterlicher Fürsorge längst geschlossen ist. Dieses fragile Fenster der Möglichkeit der Mutterliebe beschränkt sich im Wesentlichen auf die ersten sechs Lebensjahren.

    Danach folgt die kontinuierliche Abnabelung und Verselbständigung des gesunden Kindes. Mutterliebe bei einem 40-jährigen Kind ist bloss noch absurd und narzisstisch und unterdrückt die Selbstentfaltung des Kindes. Ein Kind, das auch noch Jahrzehnte nach der schmerzvollen Geburt bemuttert ist, fällt eher der gesellschaftlichen Barbarei heim. 

    Denn niemand kann das Kind retten. Es ist auf sich selber zurückgeworfen. Keine Mutter mag das Kind vor der gesellschaftlichen Barbarei und den Herausforderungen des komplexen Lebens schützen. Wir sind alle alleine. Wir können uns notfalls eine neue Familie zimmern, die mit einer ähnlichen Ausgangslage herausgefordert ist. 

    Die Eltern sind keine Lebenshilfe mehr. Stattdessen erdrücken sie einen mit ihrem Narzissmus; mit ihrem penetranten Streben nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Ko-Abhängigkeit und das Beherrschen- wie Rettenwollen. Die Kind-Eltern-Beziehung ist dadurch künstlich erschwert und vor allem entfremdet.

    Die Missverständnisse häufen sich. Nichts mehr ist einfach und umgänglich. Alle Handlungen und Worte werden stets interpretiert. Das Kind meldet sich nicht? Ein Vertrauensbruch für die eine Partei. Die Eltern wollen bloss das Beste? Eine Bevormundung für die andere Partei. Die Beziehung ist eskaliert, die Muster sind beinahe nicht zu brechen. 

    Alsdann ist das Kind gefordert, Muster zu überwinden. Das Kind muss sich distanzieren und Grenzen markieren. Das Kind muss das eigene Schicksal selber bewältigen – ohne Hilfe, auch wenn gut gemeint, der Eltern. Das Kind muss sich selber behaupten. Und das Kind muss eine neue Familie etablieren, die denselben Fehler der Erziehung nicht wiederholt.


  • Gefangen in Basel

    Ich bin hier in Basel gefangen. Ich werde lebenslänglich hier fristen müssen. Ich kann nie mehr anderswo wohnen. Die Steuern belasten mich nicht so sehr. Die KVG-Prämien sind ebenfalls bereits angewöhnt. Den weiten Arbeitsweg kann ich mit meinem unangepassten Laptop bewältigen. Die Mädchen wären technisch ebenfalls hübsch. 

    Dennoch bin ich hier gefangen. Ich vereinsame hier. Ich habe eigentlich niemanden. Ich bin ohne Familie, ohne Freunde und ohne soziale Bindungen hier eingesperrt. Solange ich tagsüber herumreise, unterwegs bin, beruflich Menschen begegne, kann ich problemlos abends heimkehren und einsam sein. Ich kann dann mich distanzieren und zurückziehen.

    Aber in dieser Ausnahmesituation harre ich meiner Wohnung. Ich kann niemanden spontan treffen, irgendwie mich verabreden und einfach plaudern. Nicht einmal die Kassierin versteht mich, weil sie Elsässerin ist. Vor der Ausnahmesituation versteckte mich in einer Bar, dort lauschte ich jeweils den Gesprächen der anderen Gästen. Ich notierte ihre Gedanken.

    So konnte ich mich jeweils einseitig mit Basel-Stadt verknüpfen. Ich konnte spionieren, meine Gedanken vervollständigten Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile. Diese Bar ist geschlossen, sie wird vorerst nicht öffnen. Vermutlich ist sie bereits bankrott. Das Gastgewerbe ist herausgefordert, eventuell unterstützt der Staat.

    Grundsätzlich ist mir Einsamkeit nicht fremd. Tagsüber berausche ich mich in meinem Job, abends vereinsame ich. Teilzeit übe ich mich als Vater einer Tochter mit speziellen Bedürfnissen. Ich führe sie jeweils aus. Die Spielplätze sind sehr üppig ausgestattet. Wir können das Angebot jedoch nicht nutzen.

    Auch dort kann ich mich nicht mit den Einheimischen verbinden. Meine Tochter wackelt nicht herum, sie spricht niemanden an, sie startet keinen Erstkontakt. Stattdessen werden wir beäugt oder ignoriert. Keine Gespräche können so wachsen. Wir durchqueren die Parks, wir weichen den glücklichen Familien aus. Wir leben in unserer Welt. 

    Wobei meine Tochter ihre Welt nicht als Gefängnis erlebt. Sie hat bloss diese. Sie weiss nichts, sie spürt bloss, dass ich nicht glücklich bin. Daher schnappt sie dauernd meine Hand und will mit mir schmusen. Das tun wir. Auch im Park. Eine Berührung kann einen beruhigen und wortwörtlich berühren.

    Dennoch bin ich einsam. Der Gedanke, hier in Basel-Stadt zu vereinsamen, ist sehr unbehaglich. Wenigstens hier vereinsamen als Kleinlützel, versuche ich mich zu beschwichtigen. Hier könnte man technisch Menschen kennenlernen. Die Region ist umfangreich und trinational. 

    Momentan sind die Grenzen geschlossen. Die vergnügungssüchtigen Lörracher und Mühlhausener bleiben daheim. Die Baselbieter verbarrikadieren sich in Itingen und Otelfingen. Was gerade hier sich aufhält, ist wohl ausschliesslich Basel-Stadt oder stammt ausm ersten Agglomerationsring zwischen Birsfelden und Allschwil. 

    Vermutlich müsste ich mich bemühen, Menschen kennenzulernen. Vermutlich schon. Doch ich bin ziemlich scheu, verschlossen, weil gleichzeitig extrovertiert. Ich bin ein introvertierter Extrovertierter. Ich kann bloss gut beobachten, aus sicherer Distanz, ich bin ganz Voyeur der Stadt. Dooferweise gefalle ich mich darin.


  • Mein Plan B

    Ich wäre so gerne ein gescheiterter, depressiver, verdorbener Schriftsteller. Oja. Ich würde so gerne unfassbare Dystopien publizieren. Und darin alle Abgründe verewigen, in die ich stets beinahe gestolpert bin. Ich bin ein kleiner Voyeur, Spanner des Lebens. Ich schnüffle hier und da an der menschlichen Kaputtheit, um meine eigene zu verbergen. 

    Ich verstecke mich momentan mehr schlecht als recht in der Privatwirtschaft. Irgendwann werde ich den Widerspruch aber nicht mehr aushalten können. Dann muss ich mich verabschieden. Meine schwerstbehinderte Tochter behindert mich derzeit. Ihr Schicksal verlangt, dass ich nicht mich verausgabe oder vollständig aufgebe.

    Ich kann daher auch kein Leben mehr in Armut führen. Ich habe fixe Kosten, die ich irgendwie decken muss. Ich kann nicht bloss an mich selber denken, sondern verantworte auch das Schicksal eines kleinen Mädchens, das dauernd nach Aufmerksamkeit, Liebe und Geborgenheit sich sehnt – was ich ihr mittlerweile gut und gerne geben kann. 

    Dennoch fasziniert mich die Idee des depressiven Schriftstellers. Ohne Frau, ohne Kind, ohne Kontakte, der vereinsamt und verausgabt ist. Der irgendwo an der Peripherie der Zivilisation in ärmlichen Verhältnissen haust, fristet aufs Lebensende, weil eigentlich bereits erloschen und gestorben ist. Eine sehr erbauliche Aussicht auf ein optionales Leben.

    Ich könnte mich von aller Welt abschotten, verstecken, ich könnte mich einfach maximal entfremden und entfernen. Ich könnte mich in meinen Text verkriechen. Ich müsste mit keinen profanen Angelegenheiten mich mehr auseinandersetzen; keine Erwerbsarbeit, keine Beziehungsarbeit, keine Arbeit weit und breit. Bloss Lust und Text. 

    Ein einfaches Schicksal für einen einfach Menschen, der keine Eigenschaften mehr haben möchte, weil lebensmüde. Ich konnte mich seit jeher für diese Idee begeistern. Zuweilen kokettiere ich im Privaten damit. Ich konnte den Plan auch bereits umsetzen in meiner Vergangenheit. Das tröstet mich, weil ich nichts verpasst habe.

    Vermutlich werde ich irgendwann dennoch wieder zum depressiven Schriftsteller. Aber vermutlich noch nicht heute. Ich bin noch zu jung. Ich halte mich hier lediglich «fit» auf dieser Plattform. Damit ich später mich meinen Nordstern nähern kann. Freuen wir uns.


  • Was brauche ich in einer Beziehung?

    Ich bin ja kein Experte für Beziehungen. Alle Beziehungen sind gescheitert. Manchmal mehr oder weniger meinetwegen. Ich habe immer gut beigetragen. Ich bin nämlich nicht immer so konstruktiv und besonnen wie ich gerne wäre. Ich kann auch sehr gut mein Glück sabotieren. Ich habe infolgedessen unlängst eine Bedienungsanleitung formuliert. 

    In dieser Anleitung möchte ich gerne etwas ergänzen, was mir im letzten halben Jahr aufgefallen ist und das ich bislang auch so noch nicht kommunizieren konnte. Liebesentzug verletzt mich unheimlich, das irritiert mich und verursacht erheblichen psychischen Stress. Die Gefühle dadurch vermischen sich. Explosiv. Ich fürchte mich dann vor mir selber.

    Der Liebesentzug kann in jeder normalen Beziehung entstehen, nicht einmal böse, beabsichtigt oder aufgrund einer «schlechten» Beziehung. Entweder ist der Lebenspartner verreist, beruflich stark gefordert oder entdeckt neue Freunde oder neue Hobbys oder hat einfach psychische oder physische Probleme, welche die Liebe stark einschränken.

    Ich kann die Gründe für den Liebesentzug rationalisieren. Zumindest im Nachhinein. Aber im Moment des Fühlens bin ich überfordert und reagiere anhänglich, verletzt, verängstigt, verunsichert, enttäuscht und ohnmächtig. Ich fordere dann noch mehr Liebe, was ja aufgrund den oben genannten Gründen ziemlich ausgeschlossen ist.

    In solchen Momenten genügt allerdings eine Umarmung. Man kann mich am Kopf streicheln, mich umarmen, mein Bein berühren. Mir einfach Wärme und Geborgenheit dadurch vermitteln. Mindestens eine Minute lang; eine einminütige herzliche, ehrliche und sanfte Berührung kann meine Psyche entwirren und entspannen. 

    Manchmal ist es so einfach. Schade.


  • Warum flüchtest du?

    Du magst dich nicht? Ich weiss. Du kannst dich selber nicht aushalten? Ich weiss. Du bist unzufrieden mit deinem Leben? Ich weiss. Du möchtest dich aber nicht auseinandersetzen? Ich weiss. Du kannst dir nicht verzeihen? Ich weiss. Du bist überfordert? Ich weiss. Du bist verängstigt? Ich weiss. Du misstraust den Menschen? Ich weiss. Du bist als Kind bereits verlassen worden? Ich weiss. Du hast Etliches verpatzt? Ich weiss. Was tust du nun? Nichts. Stattdessen schiesst du dich ab, stattdessen trinkst du. Stattdessen verlierst du den Mut. Stattdessen weigerst du dich, dir selber zu verzeihen. Stattdessen willst du dich selber umbringen. Stattdessen lehnst du alle Menschen um dich ab. Stattdessen flüchtest du. Stattdessen träumst du von einer Weltreise. Stattdessen schwärmst du von «Freiheit» und «Unabhängigkeit». Stattdessen betrinkst du dich bereits morgens. Stattdessen schläfst. Stattdessen ignorierst du alle. Stattdessen verletzt du nicht bloss dich selber, sondern auch dein Umfeld.


  • Wie man die Haltung und/oder die Verhältnisse ändert

    Das Gehirn bleibt lebendig und plastisch bis zum Tode. Diese gute Nachricht mag wohl viele Menschen trösten. So auch mich. Ich weiss, dass ich bis zum Tode mein Verhalten ändern kann, indem ich entweder meine Verhältnisse oder meine Haltung hinterfrage und anpasse. Meine Psyche ist noch nicht vollendet, sondern entwickelt sich stets.

    Allerdings kann man das Gehirn auch bis zum Tode nicht fordern oder fördern. Man kann lebenslänglich mit derselben Haltung sein Verhalten und seine Verhältnisse bedauern. Man kann feststecken. Die Nervenbahnen sind versteift und verkrampft. Kleinste Abweichungen stressen die Psyche und gefährden die Identität. 

    Manche Menschen möchten ihre Haltung und/oder ihre Verhältnisse korrigieren, können aber nicht. Sie wiederholen sich stets. Sie sind bemüht, aber vergebens. Entweder über- oder unterfordern sie sich selber. Zu grosse Schritte frustrieren und dämpfen, zu kleine Schritte langweilen und trügen Sicherheit. Es enttäuscht und blockiert. 

    Die Verhältnisse könnte man rasch wandeln. Man wählt sich seine Freunde selber aus. Die Familie ist zwar gegeben, die Intensität kann man aber justieren. Das persönliche Umfeld prägt. Wer bloss mit kaputten Menschen lebt, ist selber kaputt. Wer aber mit zu «gesunden» Menschen lebt, selber kaputt ist, fühlt sich ebenfalls unbehaglich.

    Man sollte einigermassen gleichartige Menschen wählen. Gewisse Differenz kann hier und da stimulieren, damit zum allgemeinen Nachdenken anregen. Man sollte sich nicht überlegen oder unterlegen wähnen im Freundeskreis. Ähnliche Biografie beruhigen. Auch der Lebenspartner sollte einigermassen besonnen erkoren sein. 

    Eine fordernder, weil z.B. bipolarer und/oder stets depressiver Lebenspartner frisst die eigene Lebensenergie und überdeckt die eigenen Herausforderungen im Leben. Man mutiert zum hilflosen Helfer. Ein abwesender, nicht interessierter Lebenspartner hingegen irritiert den Selbstwert und provoziert Trotzreaktionen oder Kompensationshandlungen. 

    Auch die Erwerbsarbeit beeinflusst einen massgeblich. Netto verbringen wir mehr Zeit arbeitend als lebend. Ein Beruf, der einen anwidert, langweilt, überfordert, ekelt oder ein berufliches Umfeld mit Arbeitskollegen, die einen belästigen, verunsichern, bishin drangsalieren, zerstört jede Selbstachtung und nährt den Selbsthass. 

    Daher ist eine angemessene Erwerbsarbeit unerlässlich für die innere Ruhe. Der schweizerische Arbeitsmarkt ist trotz Krise gut bestückt. Diverse Nischen können noch erfunden oder gefunden werden. Die Beschäftigungsmöglichkeiten sind vielfältig. Die Schweiz mit protestantischem Arbeitsethos unterstützt die Stellensuche aller Vermittelbaren. 

    Weitaus anspruchsvoller als Freunde, Lebenspartner oder Beruf ist es, die eigene Haltung zu verändern. In der eigenen Haltung sind unsere bewussten oder unterbewussten Erfahrungen sowie unsere Werte und Vorstellungen vermengt. Das Leben hat unsere Haltung geprägt, wohlgemerkt gekoppelt mit Verhalten und Verhältnisse.

    Die meisten Menschen sind nicht fähig, ihre Haltung zu verändern. Zwischen Haltung und Verhalten bildet sich der Widerspruch, der den Selbstwert stört und chronischen Stress verursacht. Der Wille ist zwar vorhanden, aber der Wille kann sich nicht durchsetzen. Ein nicht durchsetzbarer Wille erzeugt Spannungen. Die Krise ist die Folge. 

    Kluge Fragen regen zum Nachdenken über die eigene Haltung an. Ein kluger Fragebogen kann die Haltung verändern. Auch Freunde mit klugen Fragen mögen helfen. Doch ebenso kann der kluge Psychiater mit klugen Fragen zum Nachdenken animieren und den Prozess der Bewältigung den Umständen entsprechend begleiten. Prozessberater quasi.

    Kein Psychiater kann Rezepte oder Lösungen liefern. Ein Psychiater stellt bloss kluge Fragen. Einen Psychiater zu konsultieren, überfordert bereits die meisten Menschen und erlischt den letzten funktionierenden Selbstwert. Nun hat man quasi «kapituliert». Man anerkennt, dass man nicht mehr «Herr» im eigenen Bewusstsein ist. 

    Die Haltung verschieben sich mit den Jahren und Monaten. Ein Draufgänger gestern kann morgen ein Bünzli sein. Das Leben gleicht einer entwickelnden Spirale. Wir starten alle mit denselben Bedürfnissen als Säugling. Einige Menschen werden komplexer, andere verbleiben in ihren Haltungen und somit im Verhalten und in den Verhältnissen.

    Selber eine spiralförmige Entwicklung sich zugestehen zu können, bedingt ausreichend Reflexionsfähigkeit. Manche Menschen werden diese «Stufe» niemals beschreiten. Sie sind in ihrer Haltung «vollendet» – doch das muss nicht sein. Jeder Mensch kann sich entwickeln; technisch sind wir allesamt gleich befähigt. 

    Was fehlt, ist das Bewusstmachen der eigenen Entwicklung und der eigenen Haltung. Man muss seine eigene Haltung im Spiegel erkennen können. Man muss begründen können, warum man so ist wie man ist. Manche können das alleine – doch effektiver ist immer ein Spiegel; ein kluger Freund, eine Zufallsbekanntschaft, eine Familie oder ein Psychiater.

    Manche Menschen fürchten sich, ihre Liebsten zu spiegeln. Sie wollen schützen und Gutes tun. Doch damit schaden sie mehr als sie nützen. Grundsätzlich müssten alle Menschen bemüssigt sein, zu allen anderen Menschen offen und ehrlich zu sein und als potenzieller Spiegel wirken zu können. Doch wer riskiert das schon? Wer brüskiert schon gerne?

    Was fehlt, ist der «Hofnarr». Jede Familie, jeder Freundeskreis, jede Organisation braucht einen Hofnarren, der ausspricht, was ist, der erhellt, wo dunkel ist, der spiegelt, wo man ohne Selbstwahrnehmung ist. Es sind nicht bloss Psychiater legitimiert, die grossen und wichtigen Fragen über unser Dasein zu stellen. 

    Neben Fragen haben auch Suggestionstechniken einen gewissen Wert und eine gewisse Chance, die eigene Haltung zu verändern. Autosuggestion ist quasi eine Selbsthypnose; mit Wiederholung versucht man sich selber zu betören. Die Autosuggestion kann man mittels Modellen verstärken wie z.B. mit einem LEGO-Modell der eigenen Wunschidentität.

    Autosuggestion kann das Abfederungsvermögen respektive die Gegenwartsbewältigung erhöhen. Ereignisse, die sich teils überschlagen, können mit Autosuggestion in einen Wunschkontext gerückt werden und dramatisieren dadurch weniger die Biografie und beruhigen die Psyche. 

    Die Herausforderung der Selbstauseinandersetzung sind, dass die Selbstwahrnehmung oft verzerrt und eingeschränkt ist. Der blinde Fleck der Selbstwahrnehmung ist automatisch. Man beschäftigt sich zuweilen mit den «falschen» Herausforderungen, misstraut den eigenen Gedanken, man kann sich in Gedankenkreisen verfangen. 

    Ein neutraler Psychiater, mit dem man eine neutrale Beziehung hat, die nicht verletzt, enttäuscht oder sonstwie betrübt werden kann, ist meistens der bessere Hofnarr und Gesprächspartner als das reine Zwiegespräch oder das Gespräch mit dem Lebenspartner, Familie, Freunden oder Zufallsbekanntschaften. 

    Den Psychiater kann man nicht schocken und brüskieren. Man muss ihn nicht schonen. Man muss nicht schweigen. Der kluge Psychiater öffnet mit klugen Fragen bekanntlich die Selbstwahrnehmung und aktiviert den Prozess der Selbstreflexion; er stützt im Prozess, kann gezielt Impulse erzeugen. Das beruhigt. 

    Man kann die Haltung, man kann die eigenen Verhältnisse verändern. Die Werkzeuge sind zugänglich. Das alleine kann die Menschen auch bereits trösten, dass man notfalls alles ändern könnte. Wenn man nichts ändern will, so soll man sich auch nicht beirren lassen. Dann bleibt alles wie es war.


  • Bin ich eine reife Persönlichkeit?

    Kluge Frage. Teils sicherlich. Was ist eine reife Persönlichkeit? Ein Mensch, der bewusst erwacht ist, weiss, was er tut und sein Verhalten einordnen kann. Ich glaube, ich kann mich zu 80 Prozent selber erklären. Reif ist, wenn man auch sein Umfeld berücksichtigt und in der Wahrnehmung integriert. Man ist nie isoliert trotz des gegenwärtigen «Notstandes». Alles, was man tut, beeinflusst das Umfeld. Manchmal fokussiere ich mich auf meine unerfüllten Bedürfnisse. Hier bin ich also bloss teils reif. Ich bin nicht ganz so selbstlos wie ich mich gerne verkaufe – ein Widerspruch, der nicht ganz aufgehoben ist. Reif hier ist, dass ich darüber nachdenken und reflektieren kann. Ich bin wesentlicher reifer geworden durch die eigene Firma und Tochter, die Selbstzerstörung hat abgenommen. Ich kann mich besser vor mir selber schützen. Das ist auch reif, will ich meinen. Dennoch bleibe ich stets ein wenig unausgeglichen. Der Widerspruch zwischen bürgerlicher und antibürgerlicher Existenz, die Sehnsucht nach beiden Existenzen, sabotiert stets das fragile Glück, das ich hier und da zufälligerweise entdecke, das sich eben zu rasch verflüchtigt. Reif ist, den eigenen Widerspruch zu anerkennen und gesunde Strategien zu entwickeln, um meine Gegenwart bewältigen zu können, die aber jenseits blinder und tauber Selbstzerstörung sind.


  • Worauf ich mich freue?

    Worauf ich mich freue? Die Gewissheit, dass ich jederzeit sterben könnte, tröstet mich. Ich könnte mich jederzeit umbringen. Nicht, dass ich müsste oder augenblicklich will – nein, aber ich bin technisch befähigt. Niemand könnte mich aufhalten oder hindern. Ich kann ebensogut im Affekt mich töten. Und darauf freue ich mich.

    Absurd? Ich freue mich, dass ich überlebe. Ich freue mich, dass ich lerne. Ich freue mich, dass ich Muster breche. Ich freue mich, dass es mir manchmal auch einigermassen gut geht. Ich freue mich, dass ich manchmal ein wenig Glück und Normalität empfinden darf. Die Momente sind zwar rar, dennoch entdecke ich sie.

    Ich freue mich, dass ich mein Glück selber gestalten kann. Ich kann selber Ereignisse deuten. Ich kann selber mich befriedigen und beruhigen. Ich kann selber überleben. Ich brauche technisch niemanden. Gewiss ersehne ich wie alle Menschen eine Art Verbundenheit und Vertrautheit; Geborgenheit und Liebe.

    Ich bin kein radikaler Glücksverweigerer mehr. Ich bin vielmehr ein Glücksritter geworden. Unbändig und unstets. Ich bin manchmal zu rasend, zu hastig – aber ja, ich beruhige mich stets und stabilisiere mich wieder. Darauf freue ich mich, weil meine Zuversicht mich entspannt. Die Ereignisse können mich nicht betrüben. 

    Ich freue mich auf die potenzielle Augenblicke des fragilen Glücks. Ich freue mich auf gewisse unbeschwerte Momente. Auf unbeschwerte Liebe und Zuneigung, auf Verbundenheit und Geborgenheit. Gleichzeitig freue ich mich auf Flow-Räume, wo ich mit einer Aufgabe verschmelze und Raum und Zeit verliere.

    Ich freue, dass meine Umwelt mit mir kommuniziert, Feedback liefert, dass ich Menschen prägen kann. Ich freue mich, dass ich Hoffnung spenden kann, wo keine mehr ist. Ich freue mich auf die Bekanntschaften, die mein Leben bereichern. Ich freue mich auf meine Zukunft. Ich bin knapp in der Mitte des Lebens. Ich habe noch Etliches vor.

    Und falls ich doch sterbe, dann kann ich zurückblicken und mein Leben feiern. Mir kann niemand vorwerfen, ich hätte nicht gelebt oder nicht geliebt. Ich war stets voller Lebensfreude und stets voller überschüssiger Liebe, die ich nirgends platzieren konnte. Ich war eigentlich stets froh und bisweilen manisch gar.

    Darauf freue ich mich. Auf die Zukunft. Ganz futuristisch klassisch.


  • Die nicht nachhaltige Krise

    Gegenwärtig ist der Staat reaktiviert. Der Bundesrat hat gewisse Autorität gewonnen. Das Parlament ist faktisch ausgeschaltet. Der Notstand regiert. Solange diese Zustand terminiert ist, bin ich entspannt. Die Bevölkerung ist hörig. Die Temperaturen steigen. Die Kulturindustrie flüchtet ins Virtuelle. 

    Die Meme-Produktion blüht. Das Internetz ist voller Witz und Unfug. Das Internetz verbindet. Die grossen Pornoseiten trösten. Die sozialen Netzwerken sind plötzlich wieder hip und cool. Und Videokonferenzlösungen retten die Unternehmen. Man chattet, schreibt, telefoniert. Man ist vernetzt dank Internetz. 

    Die ersten psychologischen Krisen überfallen einzelne Familien. In meinem Umfeld habe ich bereits einige registriert. Noch ist die Sinnkrise keine Pandemie. Das warme Wetter beruhigt. Auch ist die Corona-Lage nicht ganz so ausweglos. Bald muss der Bundesrat die Massnahmen lockern. Bald werden wir alle wieder ausgehen und feiern können.

    Überhaupt spüre ich keine grosse Unruhe. Die Menschen sind wie Ratten und passen sich an. Ich hätte mehr Widerstand erhofft. Selbst im rauen Basel sind die Jugendlichen einigermassen gesittet. Grössere Gruppen werden nicht gebildet. Das nächtliche Besäufnis beschränkt sich in den eigenen vier Wänden.

    Doch möglicherweise trügt die Ruhe. Ich freue mich auf jede weitere Woche Quarantäne. Ich beobachte das Schicksal der Bevölkerung neugierig. Werden wir doch noch alle wahnsinnig? Werden wir doch alle die Sinnlosigkeit unseres Daseins anerkennen? Oder werden wir doch normal funktionieren, arbeiten uns an die Empfehlungen halten? 

    Ich hätte mir von Corona mehr Spektakel gewünscht. Es ist geradezu langweilig geworden. Auch die NZZaS, ansonsten brav alarmierend und stets aufgeregt, ist bereits Corona-ironisch. Mittlerweile werden die Vorteile der Selbstinhaftierung aufgezählt; die Luft sei viel sauberer geworden, die Natur könne Lebensräume zurückerobern. 

    Ich leide, weil es nichts zu leiden gibt. Die Todesstatistiken berühren mich nicht. Die Todesfälle an der EU-Aussengrenze beschäftigen mich weitaus mehr; sie ergreifen mich. In diesem Jahr sind es «erst» 200 ertrunkene Flüchtlinge. Gleichzeitig sind in der Schweiz knapp 600 Menschen direkt-indirekt an Corona gestorben, davon 80% über 70-Jährige. 

    Ich bin nicht erkaltet oder erstarrt. Ich relativiere diese Todeszahlen bloss. Die Flüchtlinge waren jung, hungrig und wollten ihre Verhältnisse ändern, damit sie wieder atmen und leben können. Unsere Senioren wären ohnehin gestorben – mit oder ohne Corona. Möglicherweise hat Corona etwas beschleunigt. 

    Wir sind nun alle solidarisch. Das medizinale Personal ist plötzlich gewertschätzt. Man isst lokal, stützt die KMU. Man kauft füreinander ein. Man sorgt sich liebevoll um Senioren. Man kann die soziale Härte des spätkapitalistischen Systems beinahe vergessen. Wir feiern unsere neuen Helden; die Menschen an der Kasse, im Spital, in den Kasernen und sonstwo.

    Doch es wird sich nichts ändern. Bald ist wieder business as usual. Alle Krisen sind vergessen. Die einzelnen Menschen mögen sich ändern. Aber die grossen Verhältnisse bleiben unverändert. Es ist das System, das uns erzieht und diszipliniert. Im System sind die Menschen stets anders als sie naturgemäss sind. 

    Sobald das System wieder funktioniert, mit Beihilfe der Kulturindustrie zur Zerstreuung und Beruhigung der Massen, ist die nun erlogene Solidarität wieder verschwunden. Und wie nach jeder Krise müssen wieder nochmals «härter» werden, um die Folgen der Rezession abmildern zu können. 

    Es werden ohnehin die geschickten und bereits erfolgreichen Unternehmen überleben. Die humanistischen Unternehmen werden aufgrund der Krise liquidiert. Wer gewinnt, sind die üblichen Verdächtigen. Die Technologiefirmen profitieren bereits jetzt. Sie sind Krisengewinner.

    Sie werden noch mehr Daten sammeln und noch bessere Werbeinserate schalten können. Die jüngste Aufregung wegen der laschen Datenschutzpraxis von z.B. Zoom haben uns kurzweilig empört – wie vor einigen Jahren Facebook. Alles wird wieder business as usual, sobald der Bundesrat seinen Zügel loslässt. 

    Ich will keine Zuversicht verderben, bekanntlich bin ich ja zutiefst zuversichtlich. Aber diese Krise war zu wenig dramatisch und vor allem zu temporär. Sie wird daher nicht nachhaltig sein. Tut mir leid. Mehr Corona bitte.


  • Der Suizid

    Darf die Gesellschaft ein vierzehnjähriges Mädchen schützen, das aufgrund von Liebeskummer todessehnsüchtig geworden ist? Darf die Gesellschaft einer neunzigjährigen Frau das selbstbestimmte Sterben verbieten? Darf die Gesellschaft einer depressiven vierzigjährigen Frau den Selbstmord gestatten? 

    Beim vierzehnjährigen Mädchen tendiert die Mehrheit zum Verbot des Selbstmordes. Bei der neunzigjährigen Frau duldet unsere Gesellschaft den Freitod. Bei der depressiven vierzigjährigen Frau jedoch zweifeln wir. Ein Selbstmord in diesem Lebensabschnitt ist kein Nein zum Leben, sondern ein Nein zum Leiden.

    Empathisch wie wir sind, können wir das Leiden mitfühlen. Wir können verstehen und akzeptieren, dass jemand in der Mitte des Lebens sterben möchte. Als Angehörige wollen wir auch nicht länger ohnmächtig dem Leiden zuschauen müssen. Wir wollen z.B. die vierzigjährige Frau gehen lassen – und sie nicht zum Leiden zwingen.

    Die Gesellschaft fordert, dass wir Todessehnsüchtige unverzüglich melden. Die grossen Kliniken haben Notfallnummer bereitgestellt. Ein Notfallpsychiater kann einen fürsorglichen Freiheitsentzug aufgrund akuter Selbstgefährdung verfügen. Damit gilt der Betroffene vorerst als weggesperrt und somit vor sich selber geschützt. 

    Wir sind ermächtigt, über das Leben und Sterben zu richten. Alle Angehörige dürfen einen Notfallpsychiater konsultieren. Auch ich war schon in einige Ereignisse involviert und habe bereits dieser Nummer gewählt. Habe ich damals diese Person bevormundet? Habe ich selber entschieden, was richtig oder falsch ist? Durfte ich das?

    Ich bin laizistisch. Ich kenne die menschlichen Abgründe, ich glaube, sie verinnerlicht zu haben. Ich kann den Wunsch nach der Erlösung nachempfinden. Ich kann niemandem den Tod verwehren. Ich will nicht darüber entscheiden. Ich könnte niemandem verbieten, zu sterben in dieser Welt. Ich bin ja selber technisch akut und stets suizidal. 

    Allerdings habe ich eine «rote Linie». Manchmal bin ich emotional diskreditiert. Ich bin nicht ganz unvoreingenommen. Wäre ich bloss neutraler Beobachter, wäre ich emotional distanziert, dann könnte ich noch mehr loslassen. Ich würde den Freitod eines Angehörigen akzeptieren und als Überforderung, Ohnmacht und Kapitulation deuten. 

    Aber bin ich enger verbunden, bin ich emotional aufgeladen und habe bereits viel investiert, dann spüre ich auch den Drang, zu helfen und den Selbstmord zu unterbinden. Weil ich diese Person vermutlich sehr mag oder gar liebe. Ich würde mich zwar zum Sterben anbieten, das Einschlafen begleiten, passive Sterbehilfe quasi. 

    Aber ich müsste innerlich kämpfen und mich überwinden. Ich müsste meine eigenen Bedürfnisse unterdrücken. Ich würde den Selbstmord widerwillig billigen. Ich würde mir sogar meine «Unschuld» oder meine unterlassene Hilfeleistung bescheinigen und absichern lassen wollen. Sicherheitshalber. 

    Eine unterlassene Hilfeleistung bei einer Suizidankündigung ist nicht automatisch strafbar zwar, aber moralisch insbesondere im Umfeld der Betroffenen fragwürdig und bestreitbar. Ich, der den Suizid nicht verhinderte, müsste nachträglich die Angehörigen trösten? Wie fühle ich mich dabei? 

    Mit diesem Soundtrack: