Sich verabschieden

Ich bin nicht besonders besinnlich. Ich verkenne den wahren Ernst eines Moments. Ich überspiele meine Unsicherheit mit einem zynischen Grinsen. Ich meide Situationen, die Andacht erfordern. Also habe ich die Verabschiedung eines Familienmitglieds verzögert bis zum letztmöglichen Termin. Bis jetzt.

Meine Grossmutter will sterben. Sie wird hoffentlich auch sterben. Denn ihr Lebenswille ist gebrochen. Sie siecht wortwörtlich in einem überteuerten Zimmer. Gewiss besuchen sie Verwandte und Bekannte. Doch sie möchte nicht so enden. Sie wünschte immer eine Erlösung, bevor sie ihrer Gebrechlichkeit sich schmerzlichst bewusst werden müsste.

Ich habe mich beeilt. Doch wie verabschiede ich mich würdevoll? Ich war nicht vorbereitet. Ich musste noch nie einen engen Verwandten plötzlich verabschieden. Entweder war ich zu weit entfernt und somit nicht wirklich betroffen – oder ich war zu jung, um die allgemeine Vergänglichkeit würdigen zu können. Diesmal bin ich mitten drin.

Ich habe meiner Grossmutter vermittelt, dass sie gehen dürfe. Sie müsse kein schlechtes Gewissen habe. Sie dürfe gehen. Ich habe mich aufrichtig bedankt. Ich habe aber nicht dramatisiert; also keine Tränen geweint, auch wenn mir zumute ist. Ich habe an die Momente erinnert, wo sie mich entscheidend prägte. Ihr ein gutes Gefühl hinterlassen.

Ein Gefühl, ein erfülltes, breites und langes Leben gelebt zu haben, das nun halt plötzlich sich änderte. Ich will, dass sie erlöst und zufrieden einschlafen kann. Ich will nicht über die Steuer diskutieren, nicht über verpasste Chancen meinerseits oder ihrerseits. Oder andere Lebensumstände, die sie formten. Ich will einfach, dass sie zufrieden gehen kann.

Ich habe so reagiert, wie es ebenfalls erwarten würde. Ich habe Mut zugesprochen, loslassen zu können. Ich habe im weitesten Sinne passive Sterbehilfe geleistet. Ich fühle mich nicht schlecht dabei. Sondern einfach nur menschlich und meiner Grossmutter angemessen. Sie war immer rauschend unterwegs, belebend, frech, unmittelbar.

So soll sie uns auch verlassen dürfen. Nicht als gebrechliche Grossmutter in einem Heim, die kaum sprechen, atmen und nicht selbständig sich bewegen kann. Meine Grossmutter war dem Leben zugeneigt, auch bis noch vor kurzem. Bis die längst diagnostizierte Krankheit sie vollends übermannte.

Sie wird hoffentlich bald sterben. Ich bin traurig, ja. Aber ich bin auch froh und erleichtert. Weil ich mindestens noch meine Dankbarkeit einigermassen mitteilen konnte. Ich hoffe, sie konnte sie annehmen. Das lehrt mir abermals die allgemeine Vergänglichkeit. Das Leben kann sofort enden. Ich könnte das (noch) nicht akzeptieren. Muss ich auch nicht.