Sex auf der Plattform

Ein weiterer Roman Houellebecqs habe ich überstanden. Diesmal die Plattform. Damit eröffne ich eine weitere Rezension. Die dritte nun. Ich habe noch zwei Bücher vorgemerkt, Elementarteilchen sowie Karte und Gebiet. Diese sind mir auch unabhängig davon von R. empfohlen worden. Dann beende ich meine Houellebecq-Phase und widme mich dem zeitgenössischen Kram Deutschlands und der Schweiz. Wie immer schaue ich mal.

Also. Die Plattform erzählt die Erfolgsgeschichte eines frivolen Paares, das sexuell sich total entfaltet. Michel, die Hauptfigur, ein leidenschaftsloser, aber sexuell interessierter Beamter, kann mit seiner deutlich jüngeren Partnerin, eine Exponentin der französischen Tourismusbranche, sich vergnügen und austoben.

In gefühlt vierzig Sexszenen sind Samenergüsse an der Autobahn, am Strand, im Hotel, in der Küche, im Zug, im Dampfbad, im Swinger-Club, im Restaurant und sonstwo beschrieben. Manchmal mit einem Zimmermädchen, manchmal mittels doppelten Penetration. Diese Sexszenen bilden das Grundrauschen.

Denn sie vermittelt das Glück Michels mit seiner Partnerin. Kein ewiges Suchen, keine Ablehnung. Kein voreiliger Selbstmord, keine Krankheit oder Entfremdung zerstört das Glück des Paares. Sie sind wirklich glücklich. Das Glück ist nicht bloss sexuell, sondern auch finanziell. Michel erbte eine beachtliche Summe, weil ein Rachesüchtiger einer Verflossener seines Vaters derselben ermordete.

Der Roman thematisiert das Reisen, den Tourismus. Reisen als grosse Flucht ist das grosse Thema. Als grosse Flucht vor der westlichen Zivilisation. Aber die Reisenden können nicht entkommen. Sie können nicht vergessen. Sie können sich auch nicht selber finden oder so. Sie werden bloss noch verdorbener. Das gefällt mir. Ein im Film und Literatur klassisches Motiv.

Doch grandios ist der Roman, als Michel darin das Geschäftsmodell des reinen und absoluten Sex-Tourismus’ vorschlug. Auf mehreren Seiten begründete er, wieso wir diesen Tausch eingehen sollten. Der sexuelle Tausch ist nicht geschlechterspezifisch, so wie ich bereits einmal rasch andeutete. Er ist universell. Durch seine Partnerhin hatte Michel direkten Zugang zur Tourismusindustrie.

Und mit einem Verschwörer entwarfen sie zu viert das Angebot eines reinen Liebesabenteuers. Das Produkt begeisterte Deutsche, Italiener und auch einige Franzosen. Es war ein Erfolg. Am Höhenpunkt, diesmal aber nicht sexuellen, wollte Michels Partnerin aussteigen und in Thailand sich niederlassen. Zusammen mit Michel.

Sie wetterte gegen die westliche Gesellschaft, gegen den Westen, gegen die Sinnlosigkeit und Leere unseres Daseins. Also könnte sie ebensogut hier hausen, Sex mit Michel feiern. Und sich von der westlichen Welt abgrenzen. Weder Nachrichten gucken noch Zeitungen lesen. Sie könnte einfach fristen. Sie könnte von Luft und Liebe leben, weil finanziell waren sie beide ohnehin abgesichert.

Doch eben in diesem Moment, und das empfand ich als “wunderschön”, überfielen islamistische Terroristen das Hotel in Thailand. Sie töteten über hundert Menschen. Das gewichtige Opfer war Michels Partnerin, Valérie. Sie starb. Und damit starb auch Michels Welt. Kein Glück, keine Liebe. Nichts mehr hatte er. Er wartete bloss noch auf den Tod.

Das Ende des Romans erachte ich als geglückt. Besser hätte Houellebecq den Roman nicht abschliessen können. Dieser Übergang von westlicher Zivilisationskritik zum islamistischen Terrorismus ist wundervoll. Beinahe poetisch. Der Roman beinhaltet grosse Kritik. Doch letztlich ist er vor allem ein Sexroman.

Michel fickt, bumst, lässt blasen und spritzt überall und jederzeit. Das ist beinahe beängstigend. Das kann einen selber relativ frustrieren, wenn man keinen Sex hat. Auch die Idee des absoluten und unverkennbaren Sextourismus’ ist sexualisiert durchwegs. Westliche Zivilisationskritik entflammt erst in Valéries quasi Abschiedsrede. Und dann ist sie schon wieder vorbei. Vielmehr kritisiert Houellebecq den westlichen Massen- wie Individualtourismus.

Hier bin ich auch persönlich betroffen. Ich habe mich kürzlich mit O. unterhalten. Mittlerweile mag er nicht einmal mehr reisen. Das gefällt mir. Weil Reisen löst keine Probleme. Reisen verschiebt sie bloss. O. erkundete bereits als junger Mann exotische Länder. Doch wie viel konnte er wirklich profitieren? Ausser einigen Apéro-Geschichten konnte nichts überdauern.

Denn die Verzweiflung, Enttäuschung und Ablehnung dieser Welt ist “hausgemacht”, “selbstverschuldet”. Jeder kann dieses Gefühl laden, jeder kann es spüren und fühlen. Houellebecq begriff das und hat’s für mich passend beschrieben und alles in einer schönen tragischen Geschichte verpackt. Kompliment.

One thought on “Sex auf der Plattform

  1. […] las kürzlich Houellebecqs Karte und Gebiet. Da ich meine Serie begonnen habe, möchte ich gerne weiterhin gelesene Bücher hier besprochen. Um einerseits natürlich üben […]

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