Die wahrnehmbare Zeit

Sobald du dich nicht mehr erinnern kannst, was du vor zwei Tagen war, hast du ein Problem. Du spürst, wie deine Zeit sich verflüchtigt. Du kannst sie kaum noch wahrnehmen. Weil du hastest. Du rast. Du musst dich bemühen, damit du dich erinnerst. Du musst dich anstrengen. Genau das solltest du aber tun.

Denn wenn du es unterlässt, deine Vergangenheit regelmässig zu rekapitulieren, lebst du zeitlos, ohne Vergangenheit, damit ohne Gegenwart und schliesslich ohne Zukunft. Du bist getrieben. Du treibst mit. Die Tage verschwinden, du verlierst die Kontrolle. Deine Wahrnehmung entrückt dir. Du wirst die Tage nicht mehr unterscheiden können.

Als ob du im Gefängnis oder arbeitslos, ohne Tagesablauf und ordnende Tagesstruktur wärst. Du bist in einer wahrnehmungslosen Endlosschleife gefangen. Du taumelst im Nichts; bist nichts, fühlst nichts. Alles wiederholt sich. Du sitzst, du fristest. Es passiert dir. Dir geschieht. Du durchblickst nicht mehr die Zusammenhänge.

Bloss eine achtsame Bewusstwerdung der Zeit beseelt. Weil sonst funktionierst du nur. Du musst jede Minute, jede Stunde bewusst erleben, durchleben. Du musst die Wahrnehmung deiner Zeit einfrieren können. Damit du dein Leben, schliesslich deine Zeit kosten kannst. Ansonsten bedauerst du im letzten Lebensabschnitt dein, das verpatztes Leben.

Auch ich muss mir immer wieder vergewissern, dass ich lebe. Ich möchte mich nicht überreizen und überfluten und überkitzeln. Manchmal kann ich bloss entschleunigen, indem ich mich hinsetze und mich erinnere, was bisher geschah. Woran habe ich gedacht, woran habe ich gearbeitet? Was und wen habe ich gespürt? Wo und wie wem war, bin ich nah?

One thought on “Die wahrnehmbare Zeit

  1. […] verschwinden meine Erinnerungen. Ich muss sie geradezu kultivieren. Ich muss mich stets wieder erinnern, damit ich nicht vergesse. Ich muss also meine gesamte Geschichte stets reflektieren und […]

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