Die Geschichte unseres Freundes B.

Es fällt mir manchmal alles so einfach, es fällt mir alles in die Hand. Ich fühle mich wie ein Hochstapler. Mir gefallen Hochstapler. Mir gefallen Aufstiegsgeschichten. Ich möchte die Geschichte weiterschreiben. Ich möchte aber nicht meine eigene missbrauchen, mein Leben zum Katz inszenieren, mein Umfeld damit verletzen.

Also möchte ich die Geschichte eines Sohnes meiner Heimatstadt erzählen. B. wuchs an der Ziegelfeldstrasse auf. Damals eine vielbefahrene, stickige und lärmende Kantonsstrasse. Der ferne Kanton verantwortete den Unterhalt. Doch der klamme Kanton musste gerade seine Kantonalbank an den Bankverein verschachern. Er musste dringendst Liquidität sichern.

Unser Freund B. besuchte die Primarschule im Bannfeld. Er hat sich sozial integriert, spielte Caps, konnte mitm Ball einigermassen jonglieren, konnte aufm Gerobaum 3 neben den blauen Matten die erste Schwierigkeitsstufe erklimmen. Im Stafettenlauf konnte man sich auf ihn verlassen. Er dominierte aber nicht alle Disziplinen; er konnte zweckmässig sich einreihen.

Während den kleinen Pausen spielten die Buben Rondo, die Mädchen versteckten sich am Weiher und tratschten. Eines Tages verspätete sich B.. Vermutlich war er erkrankt. Auch nach zwei Wochen fehlte B.; sein Meerschweinchen wäre längst verhungert, sein Absenzenheft längst gefüllt. B. war verschwunden.

Noch ein Woche später salutierte der Schulpsychologe R., der Mann fürs Grobe. Wenn Kinder sterben, untertauchen oder weggeschafft werden, durfte R. die Geschichten verpacken, versüssen und als Stellvertreter den Bannfeldern vermitteln. R. war angespannt, R. hatte seinen Notizblock geöffnet. R. trug langes, aber bereits ergrautes Haar, das er locker zum Schwanz zusammenband.

In der Freizeit penetrierte R. die Klassenlehrerin der 2A. Manchmal küsste R. sie leidenschaftlich im Klassenzimmer. Die Mädchen am Weiher konnten die spontane Intimität beobachten; vermutlich hat sie das Ereignis vergrault. Seitdem kultivierten sie eine Keuschheit, die erst der sanfte Drogenkonsum mit 16 in Frohheims Veloparkplätzen sprengte.

Der gewohnt nervöse Schulpsychologe R. verliebte sich in Palavern, in Unschärfe, bis endlich er nach gefühlt dreissig Minuten verkünden durfte, dass der Kollege B. vorläufig ausfalle. Der Kollege B sei verunfallt, tragisch verunfallt. Doch niemand müsse sich sorgen, B. werde genesen und bald dem Unterricht teilnehmen.

Kein Thema, denn bislang war B. nicht aufgefallen. Sein Leben schien bislang unspektakulär. Eine solide Mittelklasse, weder zu gut noch zu schlecht, weder zu beliebt noch zu unbeliebt. Ein Kind ohne Eigenschaften. Wie so oft im angepassten Mittelland, einer Gegend ohne Identität, bloss die Aare, die Jurasüdfusslinie und die A1 sowie A2 verbinden.

Doch der Unfall erweckte B. Das war sein Erlebnis. Denn seitdem hat er sich geschworen, dass er nicht in Mittelmässigkeit fristen werde. Er werde sich niemals mit einer gewöhnlichen Anstellung begnügen. Er werde immer nach Höherem, Weiterem und Schnellerem streben. Er werde niemals bremsen, er werde sich ganz der Beschleunigung hingeben.

Damit war ein gewisser Futurist entschlossen, sein noch unschuldiges und junges Leben komplett zu verändern. Seine Herkunft, seine Abstammung jedoch verweigerten das sorglose Leben; ein Leben in einer Bildungsbürgerblase. Wo man mittags über Manieren feilscht, abends über den zweiten Bildungsweg der Altersgenossen schnippt.

Der Intellekt war unschuldig, die Prinzipien der schweizerischen Leistungsgesellschaft, die keine Schöngeisterei toleriert, höchstens als Dandy und als Erbreich, waren noch nicht durchgedrungen. Die Eltern sprachen nicht einmal Hochdeutsch, sie waren kürzlich eingewandert, Ausländer niederen Ranges, rechtlich den deutschen Fachkräften gleichgestellt.

Überdies waren sie schwarz. Damit waren sie ohnehin stigmatisiert. Nicht unbedingt an der Ziegelfeldstrasse, dort waren sie eine schweigende Mehrheit. Doch im Kontext der schweizerischen Leistungsgesellschaft waren Schwarze seltene Gäste. Es sei denn, sie parkierten Blutmillionen auf Nummernkonten der Bankgesellschaft.

In den USA verkündete der eine Bill den zweiten Haushaltsüberschuss, der andere Bill revolutionierte die damals sogenannte old economy. Apple musste gerettet werden. Die jüngsten Rassenunruhen waren in den prosperierenden Endneunziger wieder vergessen und in der allgemeinen Millenniumseuphorie übertüncht.

In diesem Kontext wollte B. sein Leben reformieren. Nach einem halben Jahr kehrte B. zurück. Wieder zurück. Er humpelte noch, doch innerhalb eines Jahres war er komplett wiederhergestellt. Die Narben zeugten zwar noch von einem Schicksalsschlag, doch sie waren bloss den Eingeweihten und Suchenden sichtbar. Der erste Sieg.

Sobald Menschen die Vergänglichkeit ihres Seins zu spüren bekommen, sobald sie bemerken, dass sie begrenzt sind, sobald sie ihr Potential endlich einordnen können, sobald sie begreifen können, dass die Schweiz sozial sehr durchlässig, sehr flüssig ist, dass Herkunft, Hautfarbe einen nicht stoppen können, dann werden sie entfesselt.

Unser Freund B. schien seitdem wie entfesselt. Rasch steigerte er seinen Notendurchschnitt. Die gewohnt entspannten Klassenbesten mussten sich plötzlich sorgen. Sie liessen den Aufsteiger aufm Nachhauseweg einschüchtern. Sie bannten ihn aus dem Klub der angesagten Kinder. Er war nun unheimlich geworden. Weil er beanspruchte Chancengleichheit.

Das überraschte in der Tat seine Zeitgenossen. Die ersten näherten sich an, sie verbrüderten sich. Leidgenossen. Sie vereinigten sich, um anderen zu schaden. Sie wollten Aufmerksamkeitskartelle bilden. Sie wollten sich verständigen, sicher fühlen, sie wollten einen Heimathafen für ihre Operationen. Wir alle brauchen Freunde.

Unser B. hat sich nun Freunde klug ausgesucht. Er hat sich gezielt zwischen Freundschaften gestellt. Er hat Gefälligkeiten ausgetauscht, er hat anfänglich gewiss mehr spendiert, doch später dezent seine Ansprüche eingefordert. Er hat stets kalkuliert; kein Grüssen war mehr zufällig, kein Geschenk unbedeutend oder unpersönlich. Alles war eingeplant.

Damit verlieren menschliche Beziehungen ihre Unschuld. Sie werden beliebig, weil verhandelbar. Sie werden in letzter Konsequenz durch Geld ersetzt. Doch wir sind ohnehin alle verhandelbar; wir alle können spontan einen Preis nennen, der uns befeuert, der uns unsere Mütter töten lässt. B. kannte den Preis seiner Mutter gut und erhöhte ihn jährlich.

Nach einigen Jahren war abgesichert. Er hat sich mit einigen einflussreichen Persönlichkeiten vernetzt. Der eine mauserte sich zum erfolgreichen Jazzmusiker, der die grossen Bühnen der grossen Städten bespielte. Der andere zum lokalen Anwalt für Arbeitsrecht. Eine andere Investition war ein respektierter Kantonspolitiker.

Er arbeitete hart, er finanzierte sich selber eine Matura. Er startete ein Hochschulstudium, das er erfolgreich absolvierte. Er bezeichnete den Zürcher Kreis 1 zeitlang als seinen primären Wohnsitz. Er kleidete sich wie die jungen Schnösels Münchens oder Hamburgs. Er verfeinerte den Stil mit dem dezenten Zürcher Schick, der erst für Eingeweihte auffällt.

Er bereiste Südafrika, Israel und die Westküste so wie als eine gesamte Generation tat. Er inszenierte sich weltgewandt, weil er die neuesten Cocktails aus den lokalen Reiseführern rezitieren konnte. Weil er übers Essen und Wetter parlieren konnte. Er war Schwiegermutters Traum, auch gerade wegen seiner ungewohnten Hautfarbe.

Doch in den Endzwanziger harzte seine Karriere. Die meisten Menschen konsolidieren in den Endzwanziger ihre Beziehungen, ihre sozialen Kreise. Danach bilden sie bloss noch Zweckgemeinschaften wie Ehe, Nachbarschaft oder Kindesbekanntschaften. Die Menschen fokussieren sich auf einen primären Kreis, ersten Kreis.

Unser Freund B. hat aber seinen primären Kreis versäumt. Er hatte komplizierte Tauschbeziehungen gestrickt. Doch diese verursachten einen unökonomisch hohen Aufwand. Die Ertragsseite war immer schmäler geworden. Der Prozess war schleichend, doch plötzlich war der soziale Bankrott nicht mehr abzuwenden. Er hatte sein Sozialkapital verspielt.

Gewiss grüsste man noch in Oltens Lokalen. Man kannte sich schliesslich. Wenn man nicht gerade den lokalen grossen Boss beleidigt, kann man entspannt tanzen, trinken, sich vergnügen und Mädchen fingern. In Zürich, der zeitlang primäre Wohnsitz, konnte er sich nicht durchsetzen. Die grosse Konkurrenz konnte er nicht in der Jugend einlullen und verketten.

Dort konnte seine Beziehungsmasche sich nicht verfangen. Er fütterte seinen Zürcher Status bloss mit Oltner Nachschub, Zuzügler. Als dieser endete, verflüchtigte sich sein dortiger sozialer Stand. Gewisse Arbeitskollegen konnte er mit Gefälligkeiten über einige Monate retten. Ein letzter Auftrag eines Oltners finanzierte ihn noch für einige Monate.

Irgendwann konnte er nicht mehr überleben. Er hätte sich zwar anstellen lassen können. Er hätte sich in einem Konzern verdingen lassen können. Doch das war nicht mehr genehm. Er suchte die Herausforderung der Gründerszene. Nicht der Alltag. Sondern das Prestige. Nicht das Prestige einer UBS. Nein, das Prestige eines Startups.

Also war er erneut entschlossen. Er war entschlossen zu glauben, dass die Schweiz ihn beenge und einschränke. Also auf nach Berlin. In die wirklich grosse deutschsprachige Stadt. Wo everything goes, wo man neue soziale Netzwerke gründen kann. Wo man wirklich noch etwas bewegen kann. Wo alle bisherigen Beziehungen vergessen kann. Wo man neustarten kann.