Die erste Beerdigung

Ein Bestattungsritus ist etwas wesentlich menschliches. Ein Bestattungsritus kann eine Kultur begründen. Ich durfte erstmals bewusst als Direktbetroffener in der ersten Reihe diesem Ritual beiwohnen. Zuvor war ich in den hinteren Bänken versteckt, war mit der Trauerfamilie lose verknüpft und eigentlich gar nicht interessiert.

Die Abdankungshalle Meisenhard ist eng bestuhlt. Sie ist mässig geheizt. Die meisten Trauergäste tragen eine der Jahreszeit angemessene Jacke. Vorne rechts hat sich die Trauerfamilie organisiert. Dahinten sammeln sich ferne Verwandte, flüchtige Bekannte, Angehörige des lokalen Turnvereins.

Die Verstorbene ist meine Grossmutter. Meine Grossmutter hat mich gelegentlich als Lieblingsenkel betitelt. Vermutlich, weil sie stolz auf meinen Lebenswandel blickt. Ich kann das heute erwiesenermassen nicht mehr bestätigen lassen. Gewiss ist, dass ich meiner Grossmutter mich verbunden fühle. Daher ist diese Bestattung sehr relevant.

Das Ritual ist christlich motiviert. Ein lokaler Bruder führt durch die Zeremonie. Die ausklingenden Glocken lassen die Pforte schliessen. Ein warmes Orgelstück mahnt zur Besinnung. Die letzten Räuspern des angespannten Publikums verklingen. Der Bruder betritt das erhöhte Pult. Mit geübter und stabiler Tonalität zitiert er Rainer Maria Rilke.

Wenn du an mich denkst, erinnere dich an die Stunde, in welcher du mich am liebsten hattest.

Anschliessend deutet der Bruder das gegenwärtige Ereignisse in einen christlichen Sinn. Nunmehr also sei der Mensch Gottes Liebe nahe. Das grosse Motiv des Christentum ist bedingungslose Liebe, der unsichtbare, aber alles durchdringende Gott liebt jeden. Im Jenseits kann der Mensch die Liebe endlich empfangen, wonach lebenslänglich er sehnt.

Ich danke dem Christentum dafür, dass es Liebe verspricht, wo keine ist. Ich persönlich allerdings kann mich für solche Botschaften nicht begeistern. Ich überspringe gedanklich des Bruders Bibellese. Nun trägt der Bruder den Brief meiner Mutter vor. Der Brief resümiert in wenigen Absätzen das Leben meiner Grossmutter.

Das Leben meiner Grossmutter war beschwerlich, bishin tragisch. Dennoch hat sich meine Grossmutter immer gewieft durchgeschlagen. Sie war eine Überlebenskünstlerin. Eine Lebefrau. Eine untypisch unabhängige und selbstbewusste Frau der Kleinstadt, die gut vernetzt und integriert war.

Ich bin angespannt. Ich weiss, dass ich mich nicht selber konditionieren muss. Ich muss keine Gefühle verbergen. Ich kann wählen zwischen Starre und Trauer. Ich will nicht entscheiden, ich will es geschehen lassen. Die ersten Sätze im Lebenslauf meiner Grossmutter überwältigen mich.

Ich weine. Ich weine in Gegenwart Mitmenschen. Auch in Gegenwart meiner Mutter, ein durch die jüngsten Ereignisse belastetes Verhältnis. Neben meinem jüngeren Bruder. Ich weine. Das befremdet mich. Ich schliesse meine Augen. Ich verinnerliche die Trauer. Ich ignoriere das Umfeld. Ich weine lautlos.

Das Ritual basiert darauf, die persönliche, intime und zutiefst verletzliche Trauer zu veröffentlichen und damit schliesslich zu teilen. Die Trauergäste kreisen um die Trauerfamilie, kondolieren, umarmen, würdigen und verabschieden damit gleichermassen den Verstorbenen. Für gewöhnlich trauere ich hingegen alleine.

Die Trauer offenbart den Menschen. Die Trauer zeigt Empathie und Menschlichkeit und Barmherzigkeit. Eine veröffentlichte Trauer sendet ebendiese Botschaft. Mir fehlen zuweilen Empathie und Menschlichkeit, sie reagieren vielmehr situativ. Ich habe hier erstmalig das ehrliche Gefühl, meine Mutter umarmen zu wollen. Sie bildet den Kern der Trauerfamilie.

Dass ich öffentlich trauern kann, besänftigt mich. Das Weinen entkrampft mich. Es macht mich menschlicher. Meine Trauer gründet aber nicht im Vermissen meiner Grossmutter. Meine Grossmutter wollte die Welt nach kurzer Krankheit verlassen. Das kann ich ihr nicht verdenken. Meine Trauer entsteht aus den Lebensumständen meiner Grossmutter.

Der Lebenslauf ist traurig. Und doch hat meine Grossmutter ihn gemeistert. Sie hat die passende Musik dazu gewählt. Frank Sinatras My Way beispielsweise.

Ich fühle mit. Ich übertrage die Trauer automatisch auf meine persönliche Lebenssituation, die derzeit angespannt ist und nach einer Auflösung sich sehnt. Ich höre daneben meine Mutter weinend. Ich will vermuten, dass auch sie ihre Trauer auf ihren eigenen Lebensweg bezieht. Ich will beobachtet haben, dass die Trauer die persönlichen Werte verändern kann.

Nicht, weil man den Verstorbenen vermisst, sondern weil das Ereignis der Trauer neue Erkenntnisse durch eine neue emotionale Erfahrung festigt. Nebenbei appelliert ein Bestattungsritus an die allgemeine Vergänglichkeit, dass alles Leben ende und man sich beeilen solle. Die Trauer will uns zum Besseren lehren.

Der Lebenslauf ist abgelesen. Der Bruder widmet sich nunmehr der klassischen Exegese. Derweil zeigen Weinkrämpfe sich bei mir wiederkehrend. Meine Gedanken fluktuieren. Ich spüre sich bindende und lösende Synapsen. Die Gefühle und Gedanken verdichten sich in Wehmut und Trauer. Ein weckendes Orgelspiel unterbricht mich. Ich öffne meine Augen.

Der Bruder ruft zum Gebet. Die Trauergemeinde erhebt sich. Ich bin überfordert, wanke leicht. Ich stecke meine Hände in die Hosentasche. Der Respekt vorm Zeremonie verbietet mir das aber. Also wohin mit meiner Rechten und Linken? Weil mein Stolz verweigert mir eine Gebetshaltung. Also fasse ich mein Brillenputztuch.

Amen. Wir dürfen uns wieder setzen. Ich warte auf das Signal der eigentlichen Beisetzung im Gemeinschaftsgrab. Das ist ihr Wille. Sie will in der Masse sich anonymisieren. Eine Aussage. Doch zuvor bittet der Bruder um eine Opferhilfe für Kindern mit einem spezifischen Syndrom: das meiner Tochter.

Diesmal beherrsche ich. Das ist meine Nemesis. Diesmal will ich aushalten, was sonst so mich beelendet und zuweilen entseelt. Ich versperre mir meine Augen. Ich harre. Die Trauerfamilie darf aufstehen. Der Bruder begleitet meine Mutter. Ich verpasse die Möglichkeit der Umarmung.

Die ersten Zwischengespräche entstehen. Man verweist auf allgemeine Erinnerungen. Man huldigt. Ich habe mich mittlerweile wieder zusammengeflickt. Die vielen bekannten und auch unbekannten Menschen disziplinieren mich. Manche habe ich seit Jahren nicht getroffen. Ich führe Zwischengespräche.

Eine letzte Zeremonie am Gemeinschaftsgrab und dann ist der formelle Teil überstanden. Nun folgt ein kleiner Spaziergang zum nahegelegenen Wilerhof, dem Restaurant meiner Kindheit, wohin ich meine Grossmutter gut und gerne begleitet habe. Gewiss hat der Wirt gewechselt, der Spielplatz ist moderner geworden. Dennoch ein aufgeladener Ort.

Ich habe dort früher auch meinen Geburtstag mit meiner Grossmutter gefeiert. Das obligate Geburtstagsessen im Wilerhof. Nun sind wir wieder hier. Wir haben das Saal reserviert. Zwei Bänke. Auf der einen Seite die Familie meiner Grossmutter, auf der anderen Seite die meines Grossvaters, den ich leider nie kennenlernen konnte.

Das Personal füllt die Weingläser und serviert die Vorspeise. Mein Stiefbruder skizziert spontan einen Stammbaum, um die Verhältnisse zu veranschaulichen. Wir albern, wir lachen. Der Tod ist nicht vergessen. Der Wilerhof erfrischt die Erinnerungen an meine Grossmutter. Dieser Ort ist prädestiniert.

Nach zwei Stunden löst sich die Gesellschaft langsam auf. Ich trotte mit. Ich plane einen kleinen Spaziergang. Ich schlendere durch die Siedlungen des Wilerfelds. Ich beobachte den ersten Wohnblock meiner Grossmutter. Ich inspiziere meine vergangenen Wohnungen in diesem Quartier. Ich bin ruhig.

Das war meine erste “richtige” Beerdigung. Und vermutlich nicht meine letzte.