Der Narzissmus

Bekanntlich habe ich “rote” Tendenzen. Ich bewundere machtvolle, impulsive, egozentrische und heroische Persönlichkeiten. Wohlgemerkt hauptsächlich Männer, die sich durchsetzen; Imperien bilden, erobern und beherrschen. Sie faszinieren mich, gleichermassen verabscheue ich sie.

Ich selber hatte auch Fantasien als Jugendlicher. Ich wollte ebenfalls “Reiche” errichten. Meine Fantasien waren weit fortgeschritten und diese habe ich teils auch niedergeschrieben. Sie schlummern in alten Tagebücher, die ich mühevoll digitalisiert habe. Einige warten noch auf die Archivierung in der Cloud, damit sie persistent bleiben.

Ich selber habe auch narzisstische Tendenzen. Ich liebe mich selber, ich überhöhe zuweilen mich selber. Ich befriedige uneingeschränkt. Ich kann nicht warten oder aushalten. Wenn ich beispielsweise mich langweile, masturbiere ich so viel wie ich kann, obwohl eigentlich “sinnlos” und eine blosse Verausgabung meiner endlichen Ressourcen.

Ebenso möchte ich besitzen, ausüben und beeinflussen. Ich fühle mich bestärkt, wenn ich Menschen beeinflussen kann. Ich praktiziere das hauptberuflich. Ich identifiziere mich als Inkubator, den man beliebig einsetzen kann. Ich kann die Verhältnisse einer Organisation radikal ändern durch meine Präsenz, mein Wirken.

Ich empfinde Lust, wenn ich die Verhältnisse mitgestalten kann. Ich träumte zeitlang davon, die Entwicklung der Menschen zu formen. Dieser Traum endete aber dummerweise damit, dass Menschen der Zukunft mich in meinem Tun in der Gegenwart hindern mussten, um Schlimmeres zu meiden. Das erklärt meinen Apolitismus seit meinem 18. Lebensjahr.

Alleine solche Aussagen könnte man als narzisstisch pathologisieren. Ich hatte nie einen erheblichen Einfluss auf die Welt – ich werde auch nie einen haben. Ich müsste dazu meinen Lebensentwurf komplett revidieren; ein anderer Job, andere Fähigkeiten wären gefordert. Ich müsste also entweder Politiker oder Manager werden. Beides kann ich nicht.

Ich fokussiere mich selber. Die Bedürfnisse meiner Mitmenschen kann ich ignorieren. Ich kann meine Empathie ausschalten. Ich kann meine Bedürfnisse durchsetzen, ich kann zuweilen manipulieren. Ich entspreche in solchen Situationen den “roten” Machtgöttern, mit denen ich ambivalent mich verbunden fühle.

Auch meine Nächstenliebe könnte man narzisstisch begründen. Ich helfe gerne, weil ich beeinflussen, wirken und gestalten kann. Damit zerstreue ich meine eigenen Ohnmacht – gegenüber mir selber, gegenüber der Welt. Eigentlich ein zutiefst hilfloser Helfer, der selber suchend ist, so könnte man in dritter Person über mich resümieren.

Die “roten” Machtgötter wiederum ekeln mich. Wenn ich einen solchen erlebe, fühle ich mich herausgefordert. Ich möchte das Unrecht rächen. Ich habe bereits etliche personifizierte kennengelernt, insbesondere im beruflichen Umfeld. Das sind meistens Männer, die herrschen können. Sie belohnen Gehorsamkeit.

Dadurch entstehen Konflikte, die ich unterschiedlich löse. Ein vergangener Konflikt endete vor dem Friedensrichter, wo ich mich als Opfer inszenierte. Ich behielt Recht in diesem Fall. Das war aber zufällig. Ich hätte auch eine gegenseitige Vernichtung akzeptiert, die letzte Eskalationsstufe. Ich kann all-in riskieren und fatalistisch sein.

Manchmal kann ich mich auch unterordnen. Manchmal akzeptiere ich eine Fremdherrschaft. Deswegen fühle ich mich in der Schweiz so wohl; kein Putin regiert absolut. Die Herrschaft ist diffus, durch unsichtbare Bundesräte repräsentiert. Ein “roter” Blocher als Bundesrat – undenkbar und innert kürzester Frist “abgewählt”, was er stets verdeutlicht.

Ich kann wunderschön über meinen Narzissmus reflektieren, ihn verharmlosen, ihn überhöhen – ganz narzisstisch. Doch im täglichen Verhalten kann er mich irritieren. Ich verhalte mich zuweilen, wie ich nicht befürworte, sondern ablehne. Ich habe gewiss mich arrangiert, zähme meinen Narzissmus.

Manchmal verliere ich. Ich unterstelle mich meinen eigenen Narzissmus. Ich operiere machtvoll, egoistisch, rücksichtslos. Ich beute aus. Bloss meine Möglichkeiten begrenzen mich. Was wäre, wenn ich tatsächlich machtvoller wäre? Wenn ich über zig Menschen gebieten könnte? Wie würde ich mich dann verhalten?