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Der heimliche Selbstmord

2015 starben 253 Menschen im schweizerischen Strassenverkehr, so das zuständige Amt. Die üblich verdächtigen Zweiradfahrzeuge dürfen natürlich zunehmen und alle empören. Doch wie viel davon waren Selbstunfälle? Also keine Unfälle, sondern Selbstmorde, die sich als Unfälle tarnen?

Ich weiss es nicht. Es ist wie ein einmal eine grosse Dunkelziffer, die viele Fantasien bewegt. Ich verwette kraft meiner vielzitierten Intuition, dass ein Viertel aller Unfälle heimliche Selbstmorde sind. Schliesslich will man die Hinterbliebenen schonen und deren gesellschaftliche Ächtung verhindern.

Mein Selbstmord hingegen wäre deutlicher als deutlich. Ich würde voller Drogen und verdrögten Nutten aus einem Flugzeug ohne Fallschirm springen und mit meinem überteuerten Bluetooth-Lautsprecher das grosse Finale in Jefferson Airplanes White Rabbit ersehnen. Deutlicher geht’s wohl nicht.

Meine Zertifikatssammlung

Ich sammle Zertifikate. Ich bin zwar erst seit 2008 wieder zurück (Das Imperium schlägt zurück). Doch seitdem habe ich unzählige Zertifikate erworben. Fucking viele. Ich simuliere damit Motivation, Engagement und Beflissenheit. Ich erhöhe damit meinen Marktwert oder so. Weil Unternehmen glauben, ich sei damit produktiver oder so.

Eine wirre Abhandlung darüber bestätigt meinen Verdacht. Wir Schweizer sind nicht bloss abschlussgeil, sondern vor allem und vor alldem zertifikatsgeil. Ich verfüge über Zertifikate in allen Disziplinen, die meinen Marktwert bilden. Ich kann belegen, dass ich mich mit diversen Frameworks und anderen Praktiken auskenne.

Hier ein Auszug.

DBE-Zertifikate-Auszug

Flüchtlinge warten

Wir alle warten. Wir warten auf eine Besserung, auf eine Erlösung. Auf Gesundheit. Auf einen besseren Job. Wir warten auf die grosse Liebe. Wir warten auf action. Wir warten aufs Spektakel. Auf den Dritten Weltkrieg. Doch in Como warten unzählige Menschen auf eine Einreise. Ein Augenschein.

Ich besuchte kürzlich den Weltgeist in Brüssel. Doch richtig zu spüren vermochte ich ihn nicht. Die EU ist ohnehin abstrakt, nicht gegensächlich. Um das politische System der EU zu verstehen, darf man sich zunächst durch halbe Lexika kämpfen. Ein gewisser R. schultert das für uns alle, gleich dem Atlas oder Jesus.

Derzeit weile ich in Como. Hier ist kein Weltgeist in Aktion. Das einzige Merkmal, das einen Weltgeist erahnen lässt, ist das überschaubare Flüchtlingcamp am Bahnhof. Dort hausen sie also, diese niggers. Sie hoffen auf Einreise. Sie warten. Sie schlafen irgendwie in diesem Park.

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Die italienische Polizei “bewacht” das Spektakel. Die Flüchtlinge werden toleriert. Oder ignoriert. Como ist nicht gerade eine arme Stadt. Como ist sehr touristisch, sehr wohlhabend. Bloss Einzelheiten bestätigen, dass man in Italien ist. Den Rest könnte man Lugano oder Locarno zuschreiben. Die desolaten Toiletten hingegen nicht.

Wir erleben das Zeitalter der grossen Krisen. Doch die Krisen sind allesamt abstrakt. Flüchtlingskrise, Hungerkrise, Finanzkrise, Eurokrise, Terrorkrise. Was war noch? Ich weiss es nicht mehr. Diese Krisen sind alle sogenannt hyperreal. So “real”, dass sie unwirklich sind. Sie sind weit entfernt. Wir nehmen sie bloss virtuell wahr. Virtuell. Man muss sich ernsthaft bemühen, die Krise zu spüren.

Als beispielsweise die Flüchtlingskrise begann oder erstmals mir vermittelt wurde, war ich sehr weinerlich und ergriffen. Ich wollte heimlich abhauen, an der EU-Aussengrenze unentgeltlich helfen, Wasser und Trost spenden. Ich wollte helfen. Ich war bewegt. Ich wollte zeitlang meinen, dass dies mein lange gesuchtes oder vermisstes Erweckungserlebnis war, das unter anderem auch ein gewisser Adolf Hitler oder Christoph Blocher oder Thomas Aeschi fürs Politische motiviert-begeisterte.

Das war es natürlich nicht. Einige Wochen später war die Flüchtlingskrise vergessen. Merkel zeigte ihren grossen Busen. Alle Linken beneideten das deutsche Land, andere bauten Zäune mit NATO-Draht. Ich arbeitete und trank manchmal wie ein Grosser. Die Alternative für Deutschland konnte sich etablieren. Irgendwie.

Was nun? Wir sind alle wartend. Die Flüchtlinge sind vergessen. Hätte ich sie nicht gesehen, hätte auch sie vergessen. Wir leben in einem sorgenfreien Land. Ich habe unsere Schlagzeilen nicht überflogen. Meine selektive Wahrnehmung schützt mich. Ich habe ausserordentlich nun mich durch den Blick gequält. Nicht bloss das Girl des Tages angewixxt, sondern wirklich mich durch die Schlagzeilen geklickt. Kein Muster. Keine Ahnung, was derzeit abgeht.

Wie geht es mir?

Ich kenne eine Webseite namens wie-gehts-dir.ch. Darin werden praktische Gesprächstipps für Betroffene und Angehörige psychischer Erkrankungen vermittelt. Kürzlich hatte mich jemand ehrlich gefragt, wie es mir geht. Ich habe bloss “müde” geantwortet. Ich möchte heute ausholen.

Glueckliche-Familie

Ich konnte nicht mehr antworten. Ich fühle mich derzeit wirklich ermüdet. Vermutlich sind’s die langen und schlaflosen Nächte. Das viele Reisen. Diese allgemeine Arbeitsunlust. Meine Abneigung gegenüber gewissen Arbeitgebern. Vermutlich bin ich bloss ferienreif. Vermutlich die unerfüllte Liebe. Ich bin schlicht und einfach müde.

Manchmal mag ich wirklich nicht mehr. Manchmal habe ich das Gefühl, alles überfordere mich. Alles breche zusammen. Aber diese Momente sind kurz, dafür intensiv. Ich bin Futurist. Ich glaube an den Fortschritt, an die Bewegung, an die Beschleunigung. Ich glaube an die Veränderung und Entschlossenheit.

Doch wie geht’s mir derzeit? Ich kann es nicht beantworten. Ich fühle mich sehr betrübt. Ich fühle mich abgehängt. Ich fühle mich entfremdet. Ich gehöre nicht hierher. Ich bin verpflanzt worden. Ich bin entwurzelt; nirgends daheim, nirgends geborgen. Nirgends aufgehoben. Mein Leben ist irgendwie intensiv; es kitzelt. Aber mir fehlt Liebe.

Ich bin verzweifelt, aber ich erhole mich. Ich blicke nicht gerne zurück. Mein Blick fokussiert das Kommende, das Versprechen. Meine Sehnsucht befeuert mich. Ich dampfe, ich funktioniere, ich überlebe. Aber ich fühle mich müde. Ich möchte manchmal bremsen. Manchmal innehalten. Manchmal einfach nur mal “Stopp” sagen.

Gibt’s im richtigen Leben keine Signalwörter wie im BDSM? Kann man nicht einfach mal abhauen und sich verabschieden? Eventuell kehrt man ja wieder zurück. Eventuell ja nie mehr. Kann man nicht einfach mal sich zurückziehen? Verschnaufen? Als Futurist bekanntlich nicht; hier ist die Hast Programm und Unruhe Programmatik.

Ich verabschiede mich nun für eine gewisse Zeit. Ich bin dann mal weg. Ich werde nächste Woche wieder in Olten einreisen. Ich bin froh, Olten für einen Moment hinter mir lassen zu können. Auch ein gewisser R. sehnt sich wieder nach der regulären Front. Und nicht diesen Irrsinn hier, diese Trostlosigkeit.

So geht’s mir.

Das neofuturistische Manifest

Im 2011 wollte ich das altfuturistische Manifest verjüngen und übersetzen. Schliesslich ist’s schon über hundert Jahre alt. Wirklich nicht mehr zeitgemäss und für Wikipedia sogar irgendwie “absurd”. 2011 war für mich persönlich eine sehr bewegende Zeit. Ich übertraf mich fast jeden Tag mit Besäufnis, mit Exzessen und Absurditäten, mit Beschleunigung und Enthemmung. Man muss und soll dieses neofuturistische Manifest in diesem Kontext lesen.

Sturzkampfjaeger

  1. Wir leben; wir riskieren und sind gefährlich. Wir fürchten uns nicht.
  2. Wir wollen bloss spielen.
  3. Wir beschwören die Bewegung, die Unruhe, den Hast. Wir sind beweglich.
  4. Schön ist, was sich bewegt. Was sich entwickelt. Was nie stillsieht; niemals zurückblickt. Was dem Kommenden zugewandt ist. Es ist Fortschritt. Kein Gleichschritt.
  5. Wir respektieren allein den Mann, der steuert, der lenkt, der bewegt, entwickelt, aber auch verwirft und zerstört, wiederaufbaut und motiviert.
  6. Wir jagen. Und werden schliesslich gejagt. Wir sind lebenshungrig. Und werden schliesslich sterben. Wir sind einsam. Aber gemeinsam.
  7. Auf und ab. Zyklisch. Immer wiederkehrend, aber niemals dasselbe. Iterativ. Wir wachsen. Und werden doch nicht erwachsen.
  8. Der Tod gewöhnt sich an uns. Wir sind lebendig. Wir scheuen keine Konsequenzen. Entschlossenheit demonstrieren wir. Wir überleben. Aber sterben doch zu früh.
  9. Wir sind neugierig auf das Kommende. Das Vergangene wollen wir zertrümmern. Ideale und Erinnerungen zerschlagen wir. Wir sind, was wir werden. Wir werden niemals sein.
  10. Der Kampf ist Leben. Leben ist Kampf. Wir verstecken uns nicht. Wir sind mittendrin. Statt nur dabei. Wir prügeln und pöbeln. Wir fliehen nicht. Niemals zurückweichen. Auch auf verlorenem Posten. Abgelöst werden wir gewiss.
  11. Krieg ist Vater, mindestens Pate aller Dinge. Wir wollen nicht kuscheln. Alles, was Aufruhr, da Veränderung verspricht, befürworten wir.

Wir sind nicht mehr jung

Mit 16 war’s noch lustig. Mit 25 war’s ein ironisches Zeichen. Mit 31 wird’s langsam Ernst. Die Futuristen beschleunigen. Sie fürchten kein Morgen. Sie sind weiterhin ungezähmt. Sie verausgaben. Ich erwarte jeden Moment die Lebensbeichte, man habe seit sechs Monaten keinen Job mehr, 500’000 CHF Spiel- und/oder Puffschulden und ein gewichtiges Drogenproblem. Bis dahin überleben wir. Denn für die grossen Veränderungen ist’s zu spät.

Santelia03

Was habe ich heute getan?

Ich war heute beruflich unterwegs. Das bin ich meistens und oft. Ich habe unlängst ausm Alltag berichtet. Damals noch abstrakt. Zudem liess ich unbeantwortet, wieso gerade ich Unternehmensberater “geworden” bin. Ich möchte nun meinen heutigen Arbeitstag reflektieren.

DBE-Unterm-Büro

Ich war pünktlich im Büro. Trotz meiner Erkältung. Eine gute Leistung. Damit startet man mal gut. Ich musste mit einigen Kunden die Agenda des heutigen Tages verfeinern. Das Hauptziel des heutigen Tages war es, die nächsten zwei Wochen sowie die nächsten zwei Monaten zu planen. Welche Ziele wollen wir erreichen? Wie wollen wir vorgehen?

Ich habe die Agenda rasch überflogen. Ich wusste, ich werde improvisieren. Der Plan ersetzt bekanntlich den Zufall durch den Irrtum. Das bedeutet, es kommt ohnehin immer anders. Wozu also planen? Für eine Scheinsicherheit! Menschen lieben Sicherheiten. Alle Management-Lehren simulieren einen Sicherheit. Wir wollen sogenannte predictability, langweilige Planungssicherheit, Planbarkeit und so weiter.

Ich wurde also engagiert, die nächsten zwei Monaten zu planen. Das, damit der Kunde seinen Oberen mehr Sicherheit vortäuschen kann. Unglaublich, nicht wahr? Der heutige Tag hat meinem Kunden cash-out mindestens 3’000.- CHF gekostet, intern verrechnet sind’s knapp 20’000.- CHF. Damit kann man gemäss SKOS zwanzig Monate lang überleben (Grundbedarf). Schrecklich, nicht wahr?

Wir hatten eine klassische Ziel-Dekomposition angewendet. Meine Handwerkskunst darin ist, grössere, abstraktere Ziele in kleinere, konkretere zu schneiden. Damit sie handlich und damit planbar werden. Vor allem begleite ich den Prozess, den ich das gemeinsame Verständnis nenne. Das bedeutet, dass jeder in der Gruppe die abstrakten Ziele in konkrete interpretieren muss. Also in eigenen Worten übersetzen, vortragen muss. Die gesamte Gruppe reflektiert diese Aussagen. Das wiederholen wir, bis jedermann dasselbe versteht-sagt.

Ich habe meine Arbeit irgendwie gut erledigt. Ich habe den gesamten Prozess gut begleitet. Aber ich bin mittlerweile ermüdet. Ich bin schön klassisch ferienreif. Ich musste moderieren, dokumentieren, intervenieren und vor allem viel improvisieren. Natürlich ist mein heutiger Tagesablauf dreimal durcheinander geraten. Natürlich gab’s viel Unverständnis, viele Unklarheiten, die wir zunächst ausreden mussten. Ich bin darin erprobt und erfahren; ich kann solche Planänderungen verarbeiten (stick to the plan).

Natürlich rätsle ich gelegentlich, was mein Mehrwert ist. Wieso braucht’s mich? Ich meine, meine Arbeit ist nicht so dramatisch. Ich bin zwar ein ausgewiesener, zertifizierter Methodiker. Ich kann mich in einige Branchen hineinversetzen und mit Domänewissen verblüffen. Aber was macht mich besonders? Das einzige, was mich unterscheidet, ist, dass ich mich traue. Dass ich riskiere, aber dabei sicher wirke. Ich kann spontan und unvorbereitet eine gesamte Gruppe beschäftigen.

Denn viele Menschen, die in grossen Firmen sich verdingen, fürchten sich. Fürchten sich vor Kompetenzüberschreitungen, vor Ablehnung, vor Kritik oder vor Misserfolg. Sie wollen “auf der sicheren Seite” sein. Sie wollen ihre Arbeit gewissenhaft und gehorsamst serialisieren. Ich dagegen bin tollkühn, wagemutig, risikofreudig, bishin frech. Die grosse Ironie ist nur, dass ich bezahlt werden, um unsicheren Menschen Sicherheiten zu vermitteln. Absurd, nicht wahr?

Die geile Frau meines Alters

Ich kenne das Gefühl, dass man nicht “der Erste” ist. Und vermutlich nicht “der Letzte” sein wird. Sexuell aktive und attraktive Frauen soll’s durchaus geben. Nur blöder ist, wenn man ihnen begegnet, sind nicht nicht unschuldig verdorben und im klassischen Sinne geil, sondern das ist die Folge vieler Erfahrungen und jahrelanger Praktik. Schlimmer ist bloss, wenn sie einen gewisse Praktiken verwehren, weil sie sie bereits erfahren haben. Dann fühlt man sich elendst und entwickelt eine Eifersucht auf jene, die noch im Leben sind und in ihrem waren.

Der Jedermanns Traum ist wohl, eine relativ unerfahrene Frau in eine sexuell total abgefahrene Kameradin zu entwickeln. Doch dieser Traum bleibt wohl auf die frühe Jugend beschränkt. In meinem Alter kann man’s vergessen. Das muss man akzeptieren. Wir dürfen, wenn wir Glück haben, zumindest die Reife einer weiblichen Sexualität geniessen, bevor die menschliche Sexualität wieder zusammensackt. Später dürfen wir uns noch in unseren Lebensberichten erinnern und die Jungen, Schönen und/oder Reichen beneiden.

Was sind Fluchtkosten?

Wer flieht, macht sich das Leben nicht einfacher. Jede Flucht muss bezahlt werden. Wir könnten uns jedoch bequemen, eine unangenehme Situation mit einer Flucht beenden. Aber die Flucht selber ist nie “gratis”. Die Flucht kostet immer.

Es sind einerseits die Kosten der Flucht selber. Also welchen Aufwand muss ich betreiben, dass ich überhaupt “wegkomme”? Muss ich einen Schlepper engagieren? Muss ich mich verstellen? Muss ich notlügen? Muss ich mir eine Wohnung suchen?

Und andererseits die Folgekosten der Flucht. Was verliere ich? Welchen “Umweg” muss ich nehmen? Statt Balkan- nun doch die Mittelmeer-Route, aber dafür ertrinke ich? Oder erhalte ich Jahre später eine Arztrechnung?

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Bedenke also jede Flucht!

Ich bewundere religiöse Menschen

Ich kann die Missachtung und Verachtung meiner Mitmenschen fürs Religiöse nicht teilen. Ich bin hier vermutlich zu flexibel. Ich verabscheue keine Religionen, keine Sekten oder sonstwas. Ich mag sie irgendwie. Warum erkläre ich heute.

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Ich hatte mich heute einem Kunden gegenüber geöffnet. Ich wusste, er muss religiös sein. Er ist sehr ausgeglichen, sehr zielstrebig, integer und liebenswert. Er ist einige Jahre älter als ich, hat aber eine Frau und drei Kinder. Er hat mir anvertraut, dass er in einer lokalen Freikirche sich engagiere. Er helfe psychisch kranken Menschen. Er spiele Musik. Es sei seine erweiterte Familie. Viel Liebe, Geborgenheit und Sicherheit erhalte, spüre er.

Ich habe weder verurteilt noch angegriffen. Alleine durch meine Rolle als externer Berater ziemt sich so etwas nicht. Doch wie hätte ich privat reagiert? Eben ebenso gleichmütig. Ich habe ihm offenbart, dass ich Religionen und insbesondere wirklich religiöse Menschen bewundere. Ich habe ihm die Geschichte des Christentums zusammengefasst. Eine Religion der Aussenseiter, der Verlierer, der Randständigen, die alle nach Liebe und Anerkennung trachteten. Ein Wettbewerbsvorteil der Christentums ist, dass die Christen sowohl im Diesseits wie auch im Jenseits Liebe und Anerkennung erfahren. Das vereinfacht vieles.

Natürlich hat mein Kunde erwidert, dass die heutigen Strukturen nicht mehr viel mitm originalen Christentum gemeinsam hätten. Diese ganze Institutionalisierung, Verstaatlichung und so weiter verwirre und entfremde ihn. Ich kann das spüren. Die christlichen Staatskirchen lehren den gemeinen Menschen vorbei. Die Freikirchen haben das bekanntlich erfolgreich beantwortet. Ich fühle mich ebenfalls entfremdet, zum Beispiel von der akademischen Philosophie. Doch darum geht’s mir nicht.

Diese ganzen, meinetwegen auch Freikirchen vergrössern die Liebesfähigkeit ihrer Anhänger. Sie erschaffen eine Gemeinschaft. Eine Familie. Sie sorgen sich für einander. Niemand muss oder wird Not erleiden. Sie werden aufgenommen und aufgehoben. Viele kritische Fragen über Sinn und Unsinn unseres Daseins werden abgenommen. Man kann sich wirklich “befreien”. Man muss nicht stets grübeln und hinterfragen. Es ist eine grosse Gelassenheit.

Die zivilisatorische, weil zähmende Wirkung solcher Gemeinschaften möchte ich ebenfalls würdigen. Eine solches Panoptikum verhindert jeden Ausbruch. Die Exzesse und Auswüchse unserer Zeit sind dadurch einigermassen gedeckelt. Es können nicht alle Futuristen sein, die hemmungslos irren, leidenschaftlich suchen und mit Grenzritte sich berauschen. Das würde sonst in einem epischen Weltkrieg oder amphetaminhartem Gangbang im Hotel California enden. Das möchte niemand.

Solche Menschen wirken irgendwie glücklicher und zufriedener. Wenn ich mein Leben vergleiche, hat mein Kunde technisch schon das bessere. Ich darf und kann mich zwar total entfalten. Ich kann begeistern und verführen. Ich kann kreischen und durchbrennen. Ich habe alle Möglichkeiten und Fähigkeiten, bin vielseitig interessiert und gelehrt, kann mich sogar irgendwie ausdrücken. Ich kann und darf nachdenken, so viel und so oft ich will und kann und darf. Aber ja, glücklicher bin ich deswegen nicht. Im Gegenteil, ich bin sehr unglücklich.

Solche Gemeinschaften stabilisieren unsere Gesellschaft. Sie sind zwar intellektuell autark, aber trotzdem einigermassen integriert. Die Gemeinschaft selber domestiziert uns. Sie besänftigt und tröstet. Vor allem der grosse Trost beruhigt. Der grosse Trost, weil unser Leben einen sinnlos dünkt. Sie schenkt Hoffnung, sie nimmt Zweifel. Viele Menschen profitieren. Viele Menschen leben wirklich glücklicher. Sie zweifeln keine Minute. Sie fühlen sich geliebt. Das macht den Unterschied.

Wir Futuristen aber werden nie geliebt werden. Wir werden immer bloss eine Ahnung, kleine Momente des Glücks und der Liebe kosten dürfen. Momente, die sich rasch verflüchtigen. Diese Momente befeuern unsere Suche und Sehnsucht. Sie provozieren und reizen uns. Wir werden nicht erlöst oder geheilt. Wir werden stattdessen sterben. Weil wir wissen, dass wir auf verlorenem Posten harren. Niemand wird uns je retten. Kein Gott, keine Kirche, keine grosse Spiritualität, die alles entkrampft.

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