Month November 2020

Der pathologische Programmierer

Momentan zerstreue ich mich nicht mit Alkohol. Ich kann nicht mehr gut trinken. Ich fühle mich trinkend vor allem an den Alkoholismus meiner Mitmenschen erinnert. Das verringert meine normalerweise akute und ausgeprägte Lust aufs massloses Besäufnis. Ich kann den Alkohol so nicht mehr geniessen – oder bloss noch alleine, aber das ist auch schräg.

Stattdessen flüchte ich in eine andere Welt. Ich spiele auch kaum noch LEGO. Ich habe etliche Bausteine beschafft. Ich habe bereits die grossen Ikonen der Architektur meiner Kindheit nachgestellt. Ich habe mich im Heimbau und Städtebau versucht. Ich war zeitlang befriedigt und abgelenkt. Das war schön. 

Nein, momentan verwirkliche mich alternativ. Ich programmiere weiterhin. Ich bin derzeit süchtig geworden. Ich muss mich mittlerweile disziplinieren, nicht während Arbeitszeit zu programmieren. Ich vernachlässige meine beruflichen Aufgaben sanft. Ich kann mein Zuhause nur noch programmierend ertragen.

Mein Homeoffice ist zum Officehome geworden, wo ich bloss noch programmiere. Ich kreiere Funktionen. Ich erwache und programmiere. Bevor ich einschlafe, programmiere ich. Manchmal unterbreche ich meine Programmierung mit einer Zigarette oder Masturbation. Ansonsten programmiere ich, sofern keine Kinderbetreuung mich beansprucht. 

Das Programmieren dient als Realitätsflucht. Ich flüchte. Ich flüchte, damit ich nicht noch mehr abstumpfe. Damit ich nicht noch mehr vergammle. Vermutlich ist das die produktivste Realitätsflucht, die ich jemals getätigt habe. Keine Exzesse mehr stattdessen, kein Verausgaben meiner körperlichen, seelischen und finanziellen Möglichkeiten mehr. 

Mir ist bewusst, dass mein Programmieren pathologisch ist. Ich bin technisch kein guter Programmierer; ich programmiere als eine Art Gegenwartsbewältigung und folgerichtig als Hobby. Das Programmieren erfüllt mich. Glücklicherweise automatisiert das Programmieren manuelle Aufwände in der Firma; das motiviert mich aber bloss sekundär.

Denn letztlich programmiere ich nicht für die Firma, nicht für den Turnaround, der uns von der allgemeinen Krise befreien kann, sondern vor allem deswegen, dass ich nicht komplett durchdrehe und mich vollends abschiesse, als frustrierte, enttäuschte und ungeliebte Person in meinem Officehome verelende. 

Meine Gedanken kreisen um neue Anforderungen, die ich noch umsetzen müsste. Ich erschaffe Logiken, Methoden, welche Probleme zu lösen vermögen. Ich modelliere, skizziere gedanklich. Ich kann nicht mehr aktiv zuhören; ich sehne mich ständig nach dem Code, der alles enträtselt, alles erklärt und mich klärt. 

Vermutlich bin ich nicht der erste pathologische Programmierer. Vermutlich verberge ich ein Gefühl maximaler Ohnmacht und Ausgebranntsein. Vermutlich verzögere ich bloss den Zusammenbruch meiner Identität. Solange ich programmiere, überlebe ich, funktioniere ich – so wie der Code, den ich behutsam und lieblich warte.

Warum ich apolitisch bin

Ich lebe bekanntlich in einem politisierten Stadt-Kanton. Hier ist alles politisch. Wer nicht Velo fährt, ist sofort verurteilt. Wer nicht lokal einkauft, ist geschmäht. Wer samstags nicht dreissig Minuten auf einen miesen Cappuccino am Matthäusmarkt wartet, verneint die Konzernverantwortungsinitiative, die hier offenbar ziemlich beliebt ist. 

Ungeachtet dessen bin ich apolitisch. Ich war bereits in Olten apolitisch. In Olten war mein Apolitismus akzeptiert; Olten ist eine abgehängte Randregion, nicht privilegiert, unterentwickelt, mit einem hohen kantonalen und kommunalen Steuersatz. Ausländer, Asoziale und Arbeitslose bevölkern die Stadt und erzeugen eine sanfte Gleichmut. 

Apolitisch bin ich, weil mich die federale Tagespolitik nicht interessiert. Ich kann mich knapp über die kantonalen Herausforderungen informieren. Eine Trinkgeld-Initiative ist pendent, die Frage, ob ein mehr oder weniger privates Konsortium ein weiteres Hafenbecken ausheben soll, ebenfalls – sowie erneute Regierungsratswahlen.

Ich bin politisch sehr reduziert. Ich befürworte eine Art Grundeinkommen, ein bedingungsloser EU- und NATO-Beitritt sowie alle Initiativen, die eine Weltföderation verwirklichen wollen. Alle anderen Diskussionen in der Politik sind für mich irrelevant und unwesentlich, weil keine Dekomposition auf meine Ziele möglich. 

Natürlich muss ich deswegen manche Mitmenschen enttäuschen. Glücklicherweise ist mein Umfeld ebenfalls nicht grossartig politisiert. Man diskutiert gelegentlich über bevorstehende Wahlen, bereits legitime Ergebnisse oder vage Prognosen. Die Diskussionen sind manchmal leidenschaftlich – aber bloss der Diskussion willen.

Ich diskutiere aber nicht gerne, damit diskutiert ist. Vor allem nicht über Politik. Ich verfolge grosse Ziele, die nicht mit Tagespolitik umgesetzt oder annähernd angenähert werden können. Dadurch kann ich mich distanzieren und muss nicht allzu profan und gewöhnlich diskutieren. Ich kann Diskussionen bequem quittieren damit, dass sie irrelevant sind.

Eventuell wird mich irgendwann jemand für Tagespolitik oder Lokalpolitik begeistern. Vorläufig bin ich aber nicht zu begeistern. Ich beobachte das Politische mit Desinteresse. Ich könnte für eine Art Tausch notfalls mich engagieren; Sex gegen Politik. Wenn jemand mir regelmässigen Sex verspricht, könnte ich sicherlich Politik simulieren.