Month März 2020

Warum bin ich so zuversichtlich?

Ich besitze tatsächlich eine Zuversicht. Ich bin zuversichtlich der Welt gegenüber, dass die Menschheit dereinst vereint sei und nach anderen Werten statt Geld strebe, dass Kriege und Umweltverschmutzungen überwunden seien. Ich zweifle bloss, ob ich diese grosse Transformation einigermassen geistig bewusst miterleben kann.

Vom Mitgestalten habe ich mich längst losgesagt. Ich bin zuversichtlich mir selber gegenüber, dass ich mich immer wieder anpassen kann, dass ich mein Verhalten den mir zugetragenen Verhältnissen variieren kann. Ich bin nicht bloss ein Verpackungs- und Verdrängungskünstler, ich bin auch ein Verwandlungskünstler und Prototyp.

Die Verhältnisse kann ich nicht immer bestimmen. Ich wähle zwar meine Freunde, meinen Filter, ich reduziere oder vergrössere meine Wahrnehmung – doch ich kann nicht alles filtern und selektieren. Manche Ereignisse sind verkettet, manche erfüllen sich selbst. Ich bin zuweilen ohnmächtig und ausgeliefert. 

Allerdings kann ich selber die Ereignisse lesen und einordnen. Ich könnte alles dem strafenden Gott überantworten. Gott müsse mich bestrafen, weil ich unartig, unangepasst oder sonstwie unbequem und verantwortungslos war – was ich auch war und bisweilen bin gewiss. Oder ich kann alle Ereignisse als Bereicherung meiner Persönlichkeit verstehen.

Alle Ereignisse erhöhen die Komplexität meiner Persönlichkeit. Weil ich stets wieder Muster brechen muss, obwohl ich nicht kann, manchmal nicht will. Weil ich stets mich anpassen und umschulen muss. Ich bin zwar oftmals reaktiv, ich lerne bloss durch die Retrospektive statt Prospektive. Aber ich sammle durch jedes Ereignis neue Erkenntnisse. 

Technisch könnte ich mich zurücklehnen und beobachten, was mir passiert. Ich muss nichts fürchten. Ich habe etliches überlebt. Ich werde auch weitere Ereignisse verkraften. Weil ich mich anpasse. Ich schätze das Leben als stetige Transformation. Meine Haltung und mein Verhalten entwickeln sich. Ich bin noch nicht fertig gebaut – ich bin überhaupt nicht fertig.

Ich bin unvollkommen. Erst der Tod beendet und vervollkommnet mich. Bis dahin bin ich lernend. Ich lerne, neuartige Ereignisse auf mein Leben, auf meine Haltung und auf mein Verhalten zu übertragen. Ich lerne, deren Einfluss zu kanalisieren und damit meine Entwicklung gewissermassen zu steuern.

Ich bin daher so zuversichtlich und beinahe unverwüstlich. Aber auch ich habe meine Momente, wo ich zweifle, grüble und meine Gedanken kreisen. Dann fühle ich mich für einige Minuten, Stunden ohnmächtig und ausgeliefert, schutzlos und verloren. Es ist nicht einfach. Es ist nie einfach.

Im Gegenteil, ich glaube, die Selbstauseinandersetzung wird mit dem Alter mühsamer, anstrengender, weil die Persönlichkeit weitaus komplexer ist als z.B. in der Adoleszenz. Ein Jüngling zu transformieren, ist rasch erledigt. Die meisten Jugendlichen wechseln Weltanschauungen wie Sexualpartner. Heute Hip-Hop, morgen Metal.

In meinem Alter ist die Transformation schleichend, kontinuierlich und kann selten an einem einzelnen Ereignissen sich akzentuieren. Vielmehr ist es die Summe der Ereignisse, welche die Summe der Persönlichkeit gestaltet. Diesen Prozess der Transformation zu bejahen, spendet Zuversicht und entspannt schliesslich. Ich bin beruhigt.

Die Zweckbeziehung

Eine Zweckbeziehung ist nicht zu unterschätzen. Die Gefühle wechseln nicht, weil keine da sind. Stattdessen hat man sich auf einen Zweck verständigt. Der Zweck können gemeinsame Kinder, einen gemeinsamen Haushalt und/oder das gemeinsam Vereinsamen sein. Weitere Zwecke können vereinbart werden. Diese Beziehung ist nicht komplex.

Stattdessen ist sie routiniert und vereinfacht. Die Tage sind strukturiert. Niemand wird überrascht. Eventuell verreist man und spielt ausnahmsweise das Paar. Ansonsten garantiert die Zweckbeziehung Kontinuität und Stabilität, Einfachheit und Beherrschbarkeit. Die Zweckbeziehung bedingt bloss einen gemeinsamen Zweck, den man aushandeln muss.

Plötzlich ist das Zeitempfinden relativiert. Die Jahre vergehen. Eine zweckmässige Heirat krönt die Beziehung. Gleichzeitig gesundet der Körper, beruhigt sich die Seele; die Rastlosigkeit endet, man muss nicht mehr suchen und streben. Stattdessen ist man “angekommen” und häuslich geworden, spart fürs Eigenheim und für weitere Reisen. 

Die Zweckbeziehung entschlackt das Leben. Die Zweckbeziehung ordnet. Die Zweckbeziehung reduziert stets auf den Zweck. Man erinnert sich, warum man zusammengezogen ist. Man ermahnt sich in “Ausnahmesituationen” gegenseitig, dass man den Zweck nicht vernachlässigen dürfe. Man heiligt sich. 

Die Zweckbeziehung entzaubert. Sie schafft stattdessen psychische Stabilität, die wiederum in körperlicher und finanzieller Gesundheit resultiert. Die Zweckbeziehung ist der wahre Kitt der Gesellschaft. Ohne Zweckbeziehungen wären die Menschen längst wahnsinnig geworden. Hurra den Zweckbeziehungen.

Der Corana-Wahnsinn

Der aktuelle Virus befriedigt nicht bloss den latenten Selbstzerstörungstrieb der Menschen, der wegen Spannungen in der Anpassung mit der Kultur sich bildet. Der aktuelle Virus bedroht auch den ohnehin fragilen Lebenssinn der Menschen. Der aktuelle Virus schafft Transparenz, wo wir keine wahrhaben können.

Vor dem Virus waren die zwischenmenschlichen Beziehungen bereits angeschlagen, die Lohnabhängigkeit bereits mühsam, die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz bereits durchschimmernd. Die massenhafte Verbannung der Menschen in ihre eigenen vier Wänden vernichtet jedweden Eskapismus. Die Kulturindustrie, sonst treuer Lieferant, ist kollabiert. 

Die Berufsjugendlichen können nun nicht mehr feiern und koksen, die ausweglosen zwischenmenschlichen Beziehungen sich nicht mehr auflockern. Die vermeintlich frei machende Arbeit zerstreut nicht mehr. Stattdessen sind nun alle im Homeoffice und rätseln, was sie überhaupt tun angesichts beispielsweise der gleichzeitig desolaten Zuständen in den Kliniken.

Manche Familien werden zerbrechen. Kinder, Frau, Mann – allesamt beisammen, gezwungenermassen, weil ansonsten brav abgetrennt, fragmentiert und jeder in seiner Welt geschützt. Nun muss man sich verständigen, ausdrücken herrje. Unweigerlich ist man den sogenannten Psycho Dad aus einer Schrecklichen Netten Familie erinnert. Man lese:

Who’s that riding in the sun?

Who’s the man with the itchy gun?

Well, who’s the man who kills for fun?

Psycho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

A little touched or so we’re told.

Killed his wife ’cause she had a cold.

Might as well, she was gettin’ old.

Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

He’s quick with a gun, and his job ain’t done.

Killed his wife by twenty-one

Shot her ’cause she weighed a ton

Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

Who’s the tall, dark stranger there.

The one with the gun and the icy stare.

Holding the scalp of his ex-wife’s hair.

Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad

Häusliche Gewalt wird in den nächsten Wochen zunehmen. Das auslösende Ereignis, der sogenannte “Trigger” ist dabei unerheblich. Ist es die persönliche Sinnlosigkeit? Ist es die fehlende Realitätsflucht, die derzeit technisch kaum noch praktiziert werden kann? Ist es es der Mangel an gesunder sozialer Distanz? Ist es auch bloss die Hyperrealität des kollektiven Virus-Wahns? Was auch immer einen kleinen Amoklauf auslösen mag, ist irrelevant – viel wichtiger ist, dass es passieren wird. 

Doch nicht alle Verzweiflung muss in einem mörderischen oder sozialen Amoklauf vollendet werden. Der Amoklauf ist bloss eine Variante, die Überforderung mit der Welt primitiv, aber effektiv zu verdeutlichen. Die wahrscheinlichste Form des Ausdrucks ist die Selbsteinweisung. Die psychiatrischen Kliniken, ohnehin bereits herausgefordert, werden in den nächsten Wochen gestürmt. Wir sind alle eingesperrt, wir dürfen uns kaum noch bewegen, wir sind klassisch auf uns selber zurückgeworfen worden. Und dort ist ja bekanntlich nicht viel bis nichts. 

Das ist untröstlich. Denn die Isolation führt zur Selbstreflexion, wozu wir aber nicht fähig sind, weil wir alle Evidenzen der Sinnlosigkeit unseres absurden Daseins bislang erfolgreich verdrängen konnten – beispielsweise mithilfe der Kulturindustrie oder ablenkender Lohnabhängigkeit im Grossraumbüro, wo ebenso absurde Sorgen unsere eigenen Bedenken überdeckten. Und jetzt wird es daher endlich kritisch.

Noch berichten die Medien nicht über die kollektive Psychose, die uns bereits infiziert hat. Das einzige wirklich ansteckende dieses Virus ist der Wahn desselben. Und diese Pandemie überbordert bereits jetzt. Sie ist weitaus gefährlicher, weil sie existenziell und philosophisch ist. Sie kann nicht mit Atemmasken, Desinfektionsmittel oder sonstigem Gerät gelindert werden. Unsere normalen Hausmittelchen versagen. Wir sind ohnmächtig und hilflos.

Es genügt nicht, dass der unsichtbare Virus unsere Gesundheit ernsthaft angreift. Das wäre irgendwie zu bewältigen. Der Virus ruiniert vielmehr unsere simulierte Selbstsicherheit, unsere gespielte Identität, unseren sinnlosen Sinn und zerstört unsere bereits zerbrechlichen Gemeinschaften. Das ist weitaus dramatischer. Ob die Menschen nach zwei Wochen Inhaftierung in ihren eigenen vier Wänden sich weiterhin anpassen und unterordnen werden, ist fraglich.

In den nächsten Wochen werden Tumulte uns überraschen und empören. Denn die Ersten werden Widerstand leisten. Weil wir sind nicht so geübt in Autokratie. Wir sind eine verdorbene Gesellschaft von Hedonisten. Wir wollen bloss vergessen, feiern und manchmal so tun als ob uns die Umwelt wie Umfeld interessiere. Momentan sind die Städte noch gesittet. Doch wie lange?

Denn bald folgt die existenzielle und philosophische Krise, verursacht durch die soziale Isolation. Und sobald der Mensch sich sinnlos empfindet, ist er zu allem fähig. Die Shoa wäre ohne das lebensphilosophische Vakuum der Zwischenkriegszeit undenkbar gewesen. Und die Plünderungen und Ausschweifungen in der Grossstadt infolge des Viruses ebenfalls nicht ohne die Isolation und anerkannte Sinnlosigkeit der eigenen Existenz.

Ich will nichts beschönigen. Momentan sitzen die Privilegierten in ihren Homeoffices, skypen sich Mut und Zuversicht zu, tüfteln nach Methoden, wie man Remote Sessions optimieren könnte. Die Stimmung ist geradezu beschwingt. Man prostet remote, man klatscht und singt vom Balkon. Niedlich und herzlichst.

Doch bald werden die Ersten zusammenbrechen. Denn sobald das psychologischen Rabattmarkenheftchen gefüllt ist – und man normalerweise im Supermarkt die nächste überflüssige und qualitativ minderwertige Pfanne abholen könnte – dann werden die Menschen “durchdrehen”, und zwar schön individualisiert und jeder in seiner Passion. Familien erschiessen? Möglich. Züge sprengen? Möglich. Supermärkte plündern? Möglich. Parks verwüsten? Möglich. Alles ist möglich, weil wir ja so einzigartig sind.

Daher rate ich meiner geschätzten Leserschaft, das Spektakel weiterhin zu geniessen. Die nächsten Wochen werden dramatischer. Achtet nicht bloss auf die Opfer der Virus-Erkrankung. Sondern späht nach den Nebenerscheinungen. Die Auslastung der psychiatrischen Kliniken indiziert die allgemeine psychische Verfassung einer Gesellschaft. Und jene unserer Gesellschaft wird bald abnehmen. Versprochen!

Endlich der Virus

Endlich der Virus. Er entfacht den Selbstzerstörungstrieb. Nicht verwunderlich, dass der Virus wegen guten Quoten fortgeführt wird. Wir alle sehnen uns nach einer Kraft, die unsichtbar ist, alles beeinflusst und jeden treffen kann. Seit mehr als zweitausend Jahren war es der monotheistische Gott, der überall und alles ist. 

Vor mehr als zweihundert Jahren war es die unsichtbare Hand, welche die Märkte dieser Welt geschickt bespielte. Die Märkte wie Gott sind längst angezweifelt. Keine Identität ist mehr gesichert. Alle Lebenskonzept sind fraglich und herausgefordert. Der Sinn und Zweck der Existenzen sind ausgehöhlt und bloss noch funktionale Fassaden. 

Nun also der Virus. Die Grenzen werden erwartungsgemäss geschlossen. Was die Flüchtlingskrise bereits angedeutet hat, nämlich wie fragil die offenen Gesellschaften Europas sind, wie sensibel die Zivilität auch hierzulande ist, verwirklicht der Virus nun vollends. Die Nationalstaaten sorgen sich wieder um die Eigenen. Europa ist endgültig tot.

In Berlin – und wo sonst? – haben die Berufsjugendlichen das letzte Mal den Eskapismus gewagt. Empörend und verantwortungslos, monieren die Berufsmoralisten. Die Menschen ergattern das letzte Toilettenpapier. Die Regale der Supermärkte leerten sich samstags erschreckend. Man rüstet sich, man verbunkert sich. Man wartet auf den Untergang.

Alle Menschen lieben und hassen das Leben gleichzeitig. Das Gefühl der Überforderung und Unterforderung ist gleichzeitig. Wir haben alle ein ambivalentes Verhältnis zum Leben. Manchmal sind wir manisch, manchmal depressiv. Wir sind alle unausgeglichen. Manche unausgeglichener, manche ausgeglichener. Doch letztlich ist die Identität zerbrechlich.

Ein Virus stimuliert unseren Selbstzerstörungstrieb, unsere latente Todessehnsucht. Todessehnsucht, Angst, Unbehagen verkaufen sich bestens. Die Medien und Politik befeuern das Unbehagen mit der Welt. Sie können Bedürfnis anerkennen und mit Lösungen antworten. Das beruhigt, beruhigt Medien und Politik gleichermassen wie die Bevölkerung.

Ich geniesse derweil das Spektakel. In Europa beginnt bald der Frühling. Die Liebe sucht sich ihren Weg. Eros ist ebenso machtvoll wie der Todestrieb. Bald werden die ersten trotzen und sich wieder küssen. Bald werden wieder frische Paare spriessen – so wie das Grün unserer gezähmten Pärken. Bald ist der Tod vergessen.

Wer und was ist hier wahnsinnig?

Die Stuben der Psychiatrien und Psychologen, Lebensberater und Coaches sind gefüllt. Die Betten der psychiatrischen Einrichtungen sind überbelegt. Eine Identitätskrise ist in jedem Lebensabschnitt zu erwarten. Das Normale ist das Wahnsinnige. Das Normale ist wahnsinnig dergestalt, dass das Wahnsinnige normal ist. Hypernormalität. 

Die Menschen zerbrechen. Auslösende Ereignisse mögen variieren. Einige anerkennen, handeln und lassen sich therapieren. Andere verdrängen, schikanieren und versuchen mit Ersatzhandlungen zu funktionieren. Die Bewältigungsstrategien sind naturgemäss unterschiedlich. Erziehung, Kultur, Kontext, Umfeld beeinflussen wesentlich deren Auswahl.

Draussen in der Normalität wuchert der Wahnsinn. Das Stimmungsbild der Gesellschaft ist düster. Zwischenmenschliche Beziehungen verschwenden etliche psychische Energien auf Banalitäten. Die Gesellschaft als Gesamte toleriert Widersprüche. Die Gesellschaft honoriert zweifelhaftes Verhalten, aber verwahrt vermeintlich Unangepasste und Unnachgiebige 

Junge wie Alte berauschen sich, müssen spülen, damit sie im Alltag fristen können. Der Dschungel der Grossstadt züchtet neurotische Menschen. Die Kampfzonen sind maximiert. Alle Lebensbereiche sind im Wettbewerb und im Dauervergleich. Das fragile Selbst versucht sich zu verorten und zu stabilisieren. Es schwankt und irrt.

Der grösste Wahnsinn ist die Normalität. Das normale Leben ist absurd. Die Last des Universums, der Weltschmerz, die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung der Natur, die Sinnlosigkeit der Lohnabhängigkeit, die Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz im kosmologischen Kontext – das alles haben wir zu schultern. 

Zudem beobachten wir die Überforderung und Ohnmacht unserer geliebten Mitmenschen, innerhalb dieser Welt sich zu arrangieren. Manche verlieren wir dem Alkohol, andere im alles durchdringenden Selbstzweifel, andere in den Kompensationshandlungen. Andere in unglücklich gewählten spezialisierten Einrichtungen. Nirgends und niemand ist sicher.

Es sind alle betroffen und trifft irgendwann jeden. Niemand ist sicher. Man kann anfänglich Widerstand leisten. Doch wir alle brechen. Wir sind schutzlos ausgeliefert. Das Ich im freudschen Sinne war nie “Herr im Haus”. Nietzsche nahm uns Gott, Freud die Überzeugung, dass wir unsere Psyche beherrschen könnten. Niemand kann’s. 

Wir sind alle verloren. Manche wissen es bloss noch nicht. Ein winziges Ereignis kann uns übermannen.