Month April 2019

Verletzlich leben

Ich bin verletzlich. Bloss verletzbar kann man vertrauen. Sobald ich mich entkleide, bin ich ungeschützt. Ich bin dann emotional und kann mich nicht mehr beherrschen. Ich bin dann ganz menschlich. Kleine Ereignisse können mich emotional berühren, die ich ansonsten ignoriere. Ich bin gleichzeitig hingebungsvoll und verängstigt.

Ich kann mich bewusst verschliessen. Ich kann mich aber nicht kontrolliert öffnen. Ich werde im engsten Wortsinn geöffnet. Ich kann den Prozess im Grundsatz akzeptieren, den Verlauf aber nicht steuern, das Ergebnis ebensowenig. Ich kann bloss die allgemeine Haltung an- oder abschalten.

Ich gefalle mir nicht verletzlich. Ich weiss mich gerne geschützt und meinen Möglichkeiten begrenzt. Sobald ich verletzbar bin, überantworte ich mein Glück meinem Umfeld. Ich kann nicht mehr selber über mein Glück walten. Ich werde abhängig, beeinflussbar. Ich bin ausgeliefert, ohnmächtig.

Leider kann ich bloss verletzbar lieben. Ich kann unverletzlich keine Liebe wagen. Ich werde stets mechanisiert bleiben, ich werde stets eine Kontrolle wahrnehmen. Ich kann keine Liebe so empfangen. Ich kann hingegen gut funktionieren, mich anpassen und überleben. Ich bin auch produktiv, bin beflissen für Beruf und Berufung. Sublimierung.

Vernünftig gemeint, garantierte der geschützte und beherrschte Betriebszustand mir ein bequemes, produktives und mit gewisser Schaffenskraft gesättigtes Leben. Gleichzeitig darf ich sehnen, maulen, jammern und die allgemeine Kälte der Welt bedauern, die insgeheim ich selber verursache.

Beherrscht und geschützt werde ich vermutlich gemäss Lebenserwartung altern, irgendwann unzufrieden sterben, zuvor erkranken und mein Leben würdelos, aber funktional beenden. Verletzlich hingegen werde ich noch Jahrzehnte lang lieben, leben, ich werde motiviert, bedrückt, begeistert und betrübt sein.

Allerdings werden die emotionalen Schwankungen, also das Lieben und Verletztwerden gleichermassen, immer mehr mich ruinieren. Ich werde vermutlich irgendwann abgehärtet und wieder in einen geschützten und beherrschten Modus kehren. Ich werde dorthin flüchten, wo das Gefühl des Verletztwerdens mich nicht mehr betrifft.

Beide Szenarien befriedigen mich nicht. Wenn ich allerdings heute wählen und mich entscheiden müsste, dann favorisiere ich ein Leben mit Verletzlichkeit. Ich bin verletzlich, ich kann mich offenbaren, ich kann lieben und verstehen, ich kann empfangen und senden. Doch gleichzeitig kann man mich zerstören, zertrümmern und schliesslich verletzen.

Sei’s drum. Ich lebe, um mich zu spüren. Ich werde mich dabei verausgaben und stets etwas verlieren. Aber ich werde nichts bereuen und stets mich wiederholen.