Month Dezember 2016

Abermals alternd

Früher quälte einen, ob man zu schnell, zu früh käme. Ob man die Ejakulation hinauszögern könne. Später sorgte einen, ob man überhaupt noch erigiert, ob nicht nach fünf Minuten Verkehr alles wieder zusammenbricht. Früher freute man sich über jeden Haarwuchs, später spriessen die Haare widerlich aus den Ohren und an den Zehen.

Wie rasch man altert. Wie rasch der Körper zerfällt. Wie rasch man ermüdet. Das überrascht mich stets wieder. Auch ich altere, mehr oder weniger würdevoll. Ich beobachte die Jugend an den Bahnhöfen der Schweiz, in den belebten Bars Oltens und anderer Städte. Die Jugend ist immer frisch, unverbraucht und voller Leben.

Ich aber muss mich mit schweren Themen beschäftigen. Beruflicher Erfolg und Anerkennungen knechten mich. Familienplanung und Beziehung fordern mich. Ich kann nicht mehr bedenkenlos feiern. Ich kann nicht alles im Alkohol auflösen. Ich kann nicht mehr Nächte vertanzen. Ich muss spiessiger werden.

Ich bedauere das nicht. Ich kann mir stets ein wenig Jugend erkämpfen. Ich kann mir Freiräume schaffen. Ich kann diesen Raum mit meinen Liebsten besetzen. Dort kann ich auch jenseits der Vierziger noch meine Jugend simulieren. Dort kann ausbrechen, tanzen und feiern; alles geregelt und eingedämmt.

Ich bin nicht alleine, der zaudert und zögert. Meine Generation besitzt Ableger in den grossen Städten, die lebenslänglich das Modell der Berufsjugendlichen kultivieren. Dort kann man das vagabundierende, studentische, unbeschwerte und unkomplizierte Leben verwirklichen. Sex ohne Beziehungen, Gin mit Tonic, die Zukunft verherrlichend.

Ich werde vermutlich Olten verlassen. In einer fernen grossen Stadt das Leben umgestalten. Ich werde einerseits anständig und seriös und gesittet leben, aber gleichzeitig meinen Freiraum mit meinen Liebsten planen. Dort werden wir toben, dort werden wir uns angemessen vergnügen, um wieder heimzukehren.

Vergesslichkeit

Ich vergesse. Ich vergesse, was geschah. Ich verdränge. Ich kann mich kaum noch erinnern. Ich kann bloss schreiben. Schreibend erinnere ich mich. Denn sonst verflüchtigen sich meine Gedanken. Ich fürchte mich vorm Vergessen. Und vergesse daher dauernd und ständig. Ohne Kalender, ohne Backlog wäre ich verloren.

Ich muss meinen Tag mittels Notizen, Erinnerungen und Hinweisen stützen. Ich kann den Alltag ohne meine Helferlein nicht mehr bewältigen. Das besorgt mich zuweilen. Wieso vergesse ich stets und bloss? Wieso kann ich knapp meine eigene Telefonnummer merken? Aber nicht die meiner Liebsten? Was behindert mich?

Bereits früher wollte ich alle Gedanken manifestieren, niederschreiben, damit dokumentieren und schliesslich konservieren. Die Vergänglichkeit bedrohte alles. Ich konnte erst einschlafen, sobald meine Gedanken notiert waren. Die modernen Technologien haben diese Angst gelindert. Natels können alles aufnehmen und schultern.

Unangenehme Gedanken wie einen Arztbesuch kann ich komplett ausblenden. Unangenehme Erfahrungen kann ich komplett ignorieren. Ich kann meine persönliche Geschichte umschreiben. Ich kann mich zwar auseinandersetzen, ich beschäftige mich auch damit. Doch irgendwann beende ich eine Episode.

Danach verschwinden meine Erinnerungen. Ich muss sie geradezu kultivieren. Ich muss mich stets wieder erinnern, damit ich nicht vergesse. Ich muss also meine gesamte Geschichte stets reflektieren und rekapitulieren; meinen gesamten Kontext. Ansonsten verliere ich ihn; er verdorrt im Tagebuch.

Normale Menschen denken nicht so viel und zu viel nach. Das weiss ich. Ich quäle mich gewissermassen selber. Doch ich mässige mich auch. Auch hier beherrsche ich mich gut. Ich übertreibe nicht. Ich überfordere mich nicht. Ich weiss, was ich mir zumuten kann. Manchmal muss man einfach abschalten und darf vergessen.

Ein Schweizer in Paris

In der Schweiz lebt es sich gut. Man kann ein gutes und bequemes Leben einrichten. Die Schweiz schockiert und verblüfft nicht. Unsere Städte sind überschaubar, freundlich und sauber. Niemand muss sich verlaufen. Niemand muss sich der Zukunft wegen sorgen. Und wenn, können die Sorgen kaum rationalisiert werden. Die Schweiz ist ein Freizeitpark.

Ich mag Bequemlichkeit und Gemütlichkeit. Ich faulenze gerne. Ich entspanne mich damit. Dennoch besuche ich gelegentlich fremde Länder. Ich war kürzlich in Paris, eine klassische Weltstadt, eine klassische Sehnsuchtsmetropole. Gross, verwegen, bishin gefährlich. Die Stadt kann einen überfordern. Die Stadt überreizt die Wahrnehmung. Sie betört.

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Allein die Sehenswürdigkeiten. In Bern kann man einen Nachmittag spazieren und alles Sehenswerte bequem erledigen. In Paris müsste man eine Woche verplanen, um alles und jeden zu besichtigen. In drei Tage schafft man nichts. Die Vielfalt lähmt, blockiert einen. Man müsste priorisieren und sich fokussieren. Ich war nicht gross interessiert.

Ich hatte andere Interessen, die ich nicht publizieren muss. Ich habe den Eiffelturm funkelnd gesehen. Ich habe das Montparnasse-Hochhaus dominierend gesehen, das ich ausm Franzbuch noch kenne. Ich habe La Défense überragend gesehen. Den Triumphbogen habe ich einmal umkreist. Die Sacré-Cœur de Montmartre war auch irgendwie sichtbar.

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Ich war einkaufend. Punkt. Die grossen und breiten Boulevards haben meinen Geist nicht angeregt oder irgendwie inspiriert. Die verwinkelte Metro ebenfalls nicht. Die vielen Problemausländer auch nicht, welche die Stadt überbevölkern. Paris war nie meine Sehnsucht, die viele Intellektuelle der Schweiz befällt.

Dennoch ist die Stadt schön anzusehen. Man spürt, dass Frankreich zentralistisch regiert ist. Das gesamte Volksvermögen Frankreichs konzentriert sich in Paris. Die französische Industrie mag darben, der Kulturkonflikt verzweifeln und die politische Komödie erschaudern, aber solange der Franzose Paris hat, kann er gut schlafen.

Der Prunk beeindruckt mich. Paris konserviert den französischen Weltanspruch. Paris dokumentiert die Grösse Frankreichs. Als Schweizer kann man das nicht verstehen; wir haben keine Alleen, wir haben keine Statuen. Wir haben kein Obelisk des alten Ägyptens, das einen grossartigen Platz schmückt. Wir haben keine Helden des Krieges.

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Die Schweiz mag zwar kompetitiv, wirtschaftlich effektiv und effizient sein. Wir sind reich, angeblich glücklich und besonnen versichert. Aber unsere Städte können nicht verzaubern, nicht faszinieren oder imponieren. Wir haben das auch niemals beansprucht. Deswegen irritieren Städte wie Paris. Paris muss fesseln, muss kitzeln. Das ist Paris’ Zweck.

Denn Paris eint Frankreich. Die Schweiz konnte sich nie richtig auf eine Hauptstadt verständigen. Bern war ein fauler Kompromiss, immerhin besser als Aarau. Eine Planstadt in meiner Nachbarschaft hatte man früh verworfen, weil zu teuer und weil damit Bern, Basel oder Zürich oder die West- oder Südschweiz brüskiert worden wäre. Kompliziert.

Ich war also in Paris. Ich bin beeindruckt. Paris war bislang meine grösste Weltstadt. Berlin ist ebenfalls mächtig. Aber Berlin hat keinen Charme, keine historische Grösse, keinen Prunk. Berlin ist zu hässlich, die Alleen wirken künstlich und wie von Hitler erzwungen. Zudem ist Berlin komplett zerstört und hastig wiederaufgebaut worden. Paris nicht.

Die Jahre des Schaffens

Ich bin besessen, dass unsere schöpferische Lebensenergie endlich ist. Wir können zwar wirken und überzeugen, aber bloss befristet. Wir können nicht die Energie konstant gleich hoch dosieren. Wir verpuffen und verausgaben uns alle. Früher oder später. Wir verbrennen. Wir verwelken. Wir sterben.

Ich prognostiziere allen Menschen mindestens fünf Jahre intensiver Schaffenskraft. Für fünf Jahre kann man lodern. In einem Thema, in einer Domäne. Man kann eventuell weltweit oder mindestens regional reüssieren. Sei es als Barkeeper, Journalist, Schriftsteller, Künstler, Geschäftsmann oder Playboy.

Aber irgendwann ist die Energie verbraucht. Man verflacht. Man verfault. Man erschöpft das Thema. Man erzwingt, man ist verkrampft. Man ist nicht mehr spontan und schöpferisch und ungestüm. Man verliert gewisse Unschuld. Man ist zu bemüht. Denn alles, was entsteht, ist es wert, dass es zugrunde geht.

Auch ich bin endlich. Auch ich kann alles verballern. Ich verschwende. Ich verschwende meine Themen, ich verschwende mein Leben. Doch bewusst. Ich achte und respektiere meine Zyklen. Ich starte bald eine berufliche Wiedergeburt. Meine künstlerische Phase endet aber. Vermutlich verhungert dieser Blog.

Ich habe mich irgendwie verpflichtet für eine Kunstausstellung im Dezember. Aber diese werde ich vermutlich nicht mehr umsetzen. Ich will haushalten. Ich will mich schonen. Weil ich andere Ziele ebenfalls verfolge. Ich möchte meine künstlerische Energie nicht heute fehlinvestieren. Ich kann alles später nachholen.

Die wahrnehmbare Zeit

Sobald du dich nicht mehr erinnern kannst, was du vor zwei Tagen war, hast du ein Problem. Du spürst, wie deine Zeit sich verflüchtigt. Du kannst sie kaum noch wahrnehmen. Weil du hastest. Du rast. Du musst dich bemühen, damit du dich erinnerst. Du musst dich anstrengen. Genau das solltest du aber tun.

Denn wenn du es unterlässt, deine Vergangenheit regelmässig zu rekapitulieren, lebst du zeitlos, ohne Vergangenheit, damit ohne Gegenwart und schliesslich ohne Zukunft. Du bist getrieben. Du treibst mit. Die Tage verschwinden, du verlierst die Kontrolle. Deine Wahrnehmung entrückt dir. Du wirst die Tage nicht mehr unterscheiden können.

Als ob du im Gefängnis oder arbeitslos, ohne Tagesablauf und ordnende Tagesstruktur wärst. Du bist in einer wahrnehmungslosen Endlosschleife gefangen. Du taumelst im Nichts; bist nichts, fühlst nichts. Alles wiederholt sich. Du sitzst, du fristest. Es passiert dir. Dir geschieht. Du durchblickst nicht mehr die Zusammenhänge.

Bloss eine achtsame Bewusstwerdung der Zeit beseelt. Weil sonst funktionierst du nur. Du musst jede Minute, jede Stunde bewusst erleben, durchleben. Du musst die Wahrnehmung deiner Zeit einfrieren können. Damit du dein Leben, schliesslich deine Zeit kosten kannst. Ansonsten bedauerst du im letzten Lebensabschnitt dein, das verpatztes Leben.

Auch ich muss mir immer wieder vergewissern, dass ich lebe. Ich möchte mich nicht überreizen und überfluten und überkitzeln. Manchmal kann ich bloss entschleunigen, indem ich mich hinsetze und mich erinnere, was bisher geschah. Woran habe ich gedacht, woran habe ich gearbeitet? Was und wen habe ich gespürt? Wo und wie wem war, bin ich nah?

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