Month Dezember 2016

Soll ich klagen?

Ich zögere noch, meinen ehemaligen Arbeitgeber zu verklagen. Ich habe mit ihm eine Konventionalstrafe vereinbart, die nicht zulässig respektive bestreitbar ist. Nicht die Konventionalstrafe an und für sich, sondern die Höhe der Zahlung. Ich könnte bestreiten, dass mein Arbeitgeber die totale Summe halbiere.

Dazu muss ich allerdings den ersten Schritt wagen. Ich werde den ersten Stein werfen müssen. Momentan ist mein Verhältnis bloss angespannt, maximal nicht ganz unzufrieden. Sobald ich aber angreife, werde ich verwundbar. Noch verwundbarer als ohnehin. Ich weiss nicht, ob ich das riskieren möchte. Mein Anwalt weilt noch im Skiurlaub.

Ich bin grundsätzlich nicht so der Kläger. Ich möchte gerne alles mit Geld regeln. Hätte ich ausreichend Geld, könnte ich meine Sorgen wegkaufen. Ich könnte die komplette Summe bezahlen. Doch das würde die Stimmung meines ehemaligen Arbeitgebers nicht weiter aufhellen. Er bliebe weiterhin maximal nicht ganz unzufrieden.

Zudem ist die Schweiz klein. Ich werde meinem ehemaligen Arbeitgeber erneut begegnen müssen. Sei es an Fachtagungen oder wegen anderen Fällen vorm Gericht. Die Geschichte ist noch nicht beendet, vielmehr beginnt sie erst. Ich möchte mich eigentlich “im Guten” trennen. Doch ich habe Egos verletzt und Menschen enttäuscht.

Mein ehemaliger Arbeitgeber muss derbe Verluste verkraften. Sein Umsatz bricht weg. Die Kosten aber bleiben. Die Büros und Anlässe müssen weiterhin irgendwie finanziert werden können. Neue Mitarbeitende sind zwar rekrutiert worden, diese sind aber eher mittelmässig und überragen nicht derart, dass der Markt sie automatisch begehre.

Meine Konventionalstrafen könnte als Reingewinn verbucht werden. Ich habe alle finanziellen Ziele im letzten Geschäftsjahr längst übertrumpft. Mein ehemaliger Arbeitgeber hat mindestens 150’000 CHF durch mich verdient, nach Abzug meiner variablen Kosten, ohne allerdings fixe Kosten zu berücksichtigen. Doch diese werden ohnehin geteilt.

Was soll ich nun tun? Ich kann mich nicht entschliessen. Aber mein Instinkt will mir weismachen, dass ich klagen soll. Ich muss das konsequent durchziehen; meine Rechte einfordern und die Konventionalstrafe verkleinern. Diese würde mich sonst privat massivst verschulden. Mein Bonus ist bereits zurückgehalten worden.

Die Bedeutung des Rauchens

Rauchen befreit. Das verspricht die Werbung. Rauchen tröstet und belohnt. Rauchen begleitet uns. Sobald erwacht, rauchen wir. Bevor wir schlafen, rauchen wir. Nach dem Geschlechtsverkehr rauchen wir. Manchmal auch davor. Ich rauche oft, nicht permanent. Ich rauche seit über zehn Jahren; vermutlich zu lange.

Ich habe Rauchen immer an einen Lebensstil geknüpft; an einen Abschnitt. Das wilde, unbeschwerte und dionysische Leben. Ich habe nie Genuss, Exzess und Kater gemieden. Ich habe sie alle begrüsst; ich habe stets beschleunigt. Ich habe getanzt, gekrächzt; ich habe Herzen gebrochen und verletzt. Ich lief Liebesamok.

Ich habe mich nie beschwert. Und ich war rauchend. In meinem Bildarchiv des aktuellen Jahrzehnts sieht man mich bloss rauchend. Wenn ich die letzten zehn Jahren zusammenfassen müsste, dann könnte ich antworten, dass ich geraucht habe. Und getrunken, gefeiert und gejubelt. Und dass ich nichts bereue.

Ich ahnte aber bereits seit zehn Jahren, dass ich mich irgendwann mässigen werde. Ich werde mich niemals komplett aufgeben. Ich werde niemals als biederer Hausmann aufwachen, meine Nachbarin anlächeln und einen Gemüseauflauf vorbereiten, abends ins Studio eilen und dem örtlichen Gesangsverein teilnehmen.

Man kann mich grundsätzlich nicht zähmen; ich entschleunige mich selber. Und das bloss, wenn ich will, wenn ich mich bereit und fähig fühle. Und wenn ich auch eine gewisse Dringlichkeit und Wichtigkeit habe. Wenn sich Prioritäten verschieben, wenn ich meine issues in meinem backlog anders ordnen und sortieren muss.

Das Rauchen symbolisiert die Unbeschwertheit. Man schädigt sich, man fühlt sich unbesiegbar. Keine Krankheit kann einen bremsen. Nichts kann einen stoppen. Man kann nächtelang feiern, man kann sich mit der ganzen Welt verbrüdern. Man kann überall Leute kennenlernen und muss keine Folgen fürchten. Everything goes.

Wir wissen alle, dass wir nicht ewigs so leben können. Wir sind zwar Berufsjugendliche, hausen in den grossen Städten. Wir sind vielseitig interessiert, weit gereist, wir sprechen mindestens eine Fremdsprache fliessend. Wir kennen Menschen überall, wir sind vernetzt. Doch wir müssen uns irgendwann wieder anpassen, wieder sesshafter werden.

Ich möchte nicht alles mit dem Rauchen verknüpfen. Ich möchte nicht eine beziehungsunfähige Generation des Rauchens wegens bedauern. Ich möchte nicht die Unentschlossenheit der Gleichaltrigen des Rauchens wegens beklagen. Das ewige und viele Rauchen offenbart aber eine gewisse Gleichgültigkeit.

Rauchen simuliert Lässigkeit. Rauchen verzaubert. Rauchen kann vortäuschen, Sicherheiten vorgaukeln. Rauchen beruhigt und entspannt und tröstet schliesslich. Das nervöse Zeitalter bedroht denn auch. Wir müssen uns irgendwo festhalten. Wir müssen irgendwo unsere Unabhängigkeit und Individualität ausstellen können.

Und das halt beim Rauchen. Hier können wir selber noch entscheiden. Wir richten. Ich rauche. Ich herrsche. Das muss nicht unbedingt Rauchen sein; Ersatzhandlungen können das fehlende Rauchen kompensieren. Man kann hier auch Extremsportarten verorten, die meine Gleichaltrigen fesseln und beschäftigen derart, dass sie nicht mehr rauchen.

Wieso ich darüber berichte? Weil ich demnächst das Rauchen beende. Medikamente helfen mir. Ich muss mich abgewöhnen. Ich werde gleichzeitig einen Abschnitt langsam ausfransen, einen neuen dafür starten. Und dafür neue Freiheiten und Möglichkeiten und vor allem Optionen gewinnen.

Lage der Nation

Das Jahresende naht. Üblicherweise reflektiert man. Bald folgen die grossen Reden, die wirklich bedeutungsvollen Reden, die man am dritten Januar wieder vergessen hat. Im Fernsehen wiederholen sich Listen. Diese verseuchen Fernsehen und Internetz. Sie sollen amüsieren, manchmal auch irritieren oder bloss verblüffen. Ich warte.

Ich lasse mich nicht beeinflussen. Ich meide das Echtzeitfernsehen. Ich selektiere meine Medienkonsum mit RSS-Feeder. Manchmal spendiere ich mir die NZZaS, ein gemeinhin beachtetes Blatt. Die schweizerische Tagespolitik beobachte ich durch mein schmales Guckloch. Manchmal erheitert sie mich, manchmal langweilt sie mich auch bloss.

Ich möchte keine Jahre der Entscheidung beschwören. Die Ereignisse vom 2016 kann man dramatisieren. Ich glaube, der Terror und der Isolationismus gewisser Nationen dominierten. Die Ereignisse bedrohen vor allem Europa, dieser unendliche Freizeitpark für die Reichen, Gebildeten, Kultivierten und Genussfreudigen dieser endlichen Welt.

Die Schweiz ist zwar ebenfalls vernetzt, wir konsumieren, produzieren und beliefern. Wir sind durchwegs globalisiert; angeblich übertrumpft bloss noch Singapur die unsrige Wettbewerbsfähigkeit und den unsrigen Globalisierungsgrad. Die Ereignisse müssten uns also interessieren, doch sie können kaum. Sie dringen kaum durch.

Manche rufen, schreiben und betteln dagegen. Das EU-Thema soll endlich uns beschäftigen. Auch der Terrorismus könnte einreisen. Man würde den Terroristen nicht einmal bemerken oder erkennen. Der Terrorist könnte sich verstecken, könnte von unseren Sozialleistungen knabbern und von unseren grosszügigen Frauen profitieren.

Ich erwarte im 2017 nichts Besonderes. Die Welt dreht weiter. Die EU endet noch nicht, die NATO ebenfalls nicht. Auch Putin kann nicht Polen überrollen. Italien mag irgendwie Schulden ausgleichen. Griechenland lähmt sich weiterhin selber. Frankreich radikalisiert sich zunehmend, spaltet sich. Belgien ist längst gescheitert. Und Deutschland?

In Deutschland könnte sich etwas verändern. Aber Deutschland hat bereits unzählige Söhne in fremder Gefangenschaft verloren. Die humanistische Mittelschicht Deutschlands kann eine Radikalisierung abwenden; sie kann versöhnen. Weil sie sich erinnert. Deutschland kann bloss sozial- oder christdemokratisch sein.

Hedonisten oder Nationalisten werden Deutschland niemals alleine regieren können. Deutschland als politisches System erstrebt den Ausgleich. Im Einzelnen, in München, Hamburg oder Berlin freilich können sich einige Gruppierungen totalisieren. Die Hedonisten in den urbanen Altbauwohnungen, die Nationalisten im Speckgürtel.

Ich fürchte diese Minderheiten nicht. Sie können poltern, aber niemals absolute Mehrheiten bilden. Sie müssten sich eigentlich verbrüdern, verschwören. Sie müssten sich zusammentun. Doch unüberwindbare Differenzen verunmöglichen einen Kompromiss. Sie werden sich vorerst nicht einigen, denn vorerst ist die Lage noch überschaubar.

In der Schweiz entscheidet sich im 2017 nichts. Wir erwarten keine Veränderungen. Das ist der Vorteil unseres Systems. Wir sind sehr gemütlich getaktet. Veränderungen können nicht rasch umgesetzt werden. Wir gedulden uns. Wir können auch mal abwarten. Europa kann auseinanderbrechen; wir reagieren später. Dafür dann besonnen und ohne Aktionismus.

In meinem Privatleben aber ändert sich im 2017 vieles. Anderes Thema.

Der Bürgerkrieg

Die SVP siegt, der Graben zwischen Stadt und Land vertieft sich. Die ersten Städtler wollen ihre unabhängigen Republiken ausrufen. Die zersiedelte Agglomeration des Mittellands repräsentiert den neuen Feind. Das sind Pendler, Einfamilienhausbesitzer; das ist der verklemmte und bedrohte Mittelstand.

Diese Menschen dominieren die politische Landschaft. Sie verwerfen Innovationen. Sie blockieren Weiterentwicklungen. Sie schliessen die Grenzen. Sie fürchten die grossen Städte; sie scheuen Langstrasse und Kleinbasel. Sie wettern gegen Expats, gegen internationalisierte Konzerne. Sie meiden Sushi-Bars.

Die SVP besetzt im Kanton Aargau bereits 50% der Exekutive; die Legislative ist gleichsam unterwandert. Die Asylanten des Kantons werden in Aarburg einquartiert; eine neue Baracke nahe bei Olten. Dort stören sie nicht. Derzeit muss der Kanton Aargau 2’000 Asylanten versorgen. Die Bevölkerung sträubt sich; der Bund verordnet.

Diese Asylanten verursachen Kosten. Sie verdrecken das Stadtbild. Wenigstens nur Aarburg, das ohnehin Olten angerechnet ist. Eine vergessene und verlorene Kleinststadt, vom feinen Sitz der Kantonsregierung in Aarau heraus betrachtet. Bereits längst verfault und mit dem dreckigen Olten verwachsen.

Die UNO prognostiziert eine erneute Völkerwanderung. Der kleine Bürgerkrieg in Nigeria hat sich intensiviert. Die zweite Religiosität erfasst vor allem Drittweltstaaten und die Unterschichten der westlichen Zivilisation; die zweite Religiosität beseelt, begeistert den Menschen. Sie tröstet und rationalisiert, erklärt und vereinfacht.

In Nigeria radikalisieren sich die Islamisten im Norden sowie die Christen im Süden. Beide Parteien streiten übers Rechtssystem sowie über die Ausbeutung der reichlich vorhandenen natürlichen Rohstoffen. Gegenseitige Lynchmorde, Mobs und Massenvergewaltigungen befeuern den Konflikt. Frauen und Kinder werden instrumentalisiert.

Der fragile Mittelstand flieht. Damit entzweit sich das Land noch mehr. Der säkulare Mittelstand konnte noch versöhnen, ausgleichen. Er mittete das Land, fokussierte die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen. Doch dieser verblutet, ist ausgedünnt, weil geschändet und ermordet.

Ebendieser Mittelstand überquert die Sahara, das Mittelmeer und beantragt Asyl. Technisch gut ausgebildet, mindestens zweisprachig, die renommiertesten kapitalistischen Hochschulen absolviert. Sie bestürmen unsere Grenzen. Sie schmälern unsere Gewinne, fressen unsere importierten Früchte und begatten unsere Frauen.

Auch die Schweiz hat sich seit 2016 radikalisiert. Doch nicht der religiöse Konflikt; diese verstärkte zweite Religiosität, die ungemein versöhnt und Sinn stiftet. Wir haben die Religionen zurückgedrängt. Die Christen und Moslems fristen in bedeutungslosen Parallelgesellschaften; die Sekten und Freikirchen bedienen ebenso Minderheiten.

Der wirtschaftliche Verdrängungskampf beschäftigt, besorgt den Mittelstand. Die grossen Städte florieren, sind der Welt zugewandt, begrüssen Einwanderung und Vielfalt. Das Mittelland idealisiert die heile, geschlossene Schweiz und den anständigen, weil erlernbaren Beruf. In Zürich bewältigen bereits 82% aller Jugendlichen die Matura.

In Zeihen und Langnau entscheiden deren sich bloss 8%; sie begnügen sich mit der Berufslehre. Sie schreinern, zimmern, terrassieren und hämmern, sie verkaufen und dienstleisten. Sie arbeiten. Die gleichaltrigen Arbeitnehmer beraten, studieren, fantasieren, operieren, sie innovieren und erzählen. Sie bilden den Wasserkopf der Gesellschaft.

Sie schieben skandinavische Holztische aufm behandelten Fischgrätparkett. Sie verpflegen sich gesund und bewusst; sie lästern über die MK-Tragetasche der provinziellen Damen. In Zeihen und Langnau pflegt man einen Garten; man besitzt zuweilen Eigentum oder erbt mindestens. Man mäht und hegt.

Dieser Gegenstand verschlimmerte sich seit den Neunziger. Damals verabschiedeten sich der klassische Mittelstand aus der Stadt. Eine neue Schicht übernahm die nunmehr freistehenden Altbauwohnungen der grossen Städte. Sie engagierten sich fortan gegen die ländliche Kernenergie und frönten den Bio-Kult.

Doch die Ereignisse der Welt, der Religionskonflikt der Dritten Welt, der Peripherie der westlichen Zivilisation, dringen auch in die Schweiz. Freilich verspätet und nicht unmittelbar. Die Flüchtlinge Aarburgs, Oltens, Grenchens, Schlierens, Spreitenbachs und Biels, die wohl hässlichsten Städte der Schweiz, gefährden die Agglomeration.

Denn der Mittelstand ist nicht kompetitiv. Seine Tätigkeiten können ausgelagert, rationalisiert werden. Seine Ideologien sind überkommen. Die Gesellschaft teilt sich in innovativ und altbacken, in reich und arm, in offen und verschlossen. In Weltstadt und Provinz, in Intellekt und Handwerk. In Ausland und Schweiz, in Iran-Ferien und Heimaturlaub.

Der soziale Frieden war seit dem letzten Generalstreik gesichert. Jüngere wie ältere Sozialwerke nivellierten die Gesellschaft. Der Exportboom seit 1945 bescherte Massenwohlstand. Die Kulturindustrie zerstreute jegliche Bedenken über die Sinnlosigkeit, Fragwürdigkeit der eigenen Existenz. Sie sedierte.

Doch die weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahren habe die Situation dramatisiert. Der schweizerische Mittelstand verliert Anschluss. Die Angebote der Kulturindustrie haben sich zwar verbessert; neue Serien, Fortsetzungsromane und -filme ewiger Klassiker. Doch die Ungleichheit hat sich vergrössert.

Und nun die ausgebildeten, motivierten Flüchtlinge Afrikas. Säkular, gutaussehend, gepflegt. Wohlhabend. Sie wollen arbeiten. Sie wollen sich integrieren. Sie sind hungrig. Sie wollen sich vermehren. Gleichzeitig aber die gleichgültigen Städter, die sich in ihrer Blase verkrochen haben. Blase der hippen Bars, der Weltoffenheit und sexuellen Liberalität.

Die grosse Volksabstimmung im Frühling richtet darüber, ob die längst eingemotteten Truppen die grüne Grenze des Tessins beschützen sollten. Der Mittelstand skandiert aufm Bundesplatz in Bern. Die dortigen Städter haben sich in der Reithalle versammelt. Der Mittelstand ist mit Kind und Kegel angereist, die Städter mit syrischem Anhang.

Die Städter wollen die Kundgebung des Mittelstands blockieren. Sie marschieren der Speichergasse entlang. Bei der Turnhalle stoppen sie kurz, verpflegen sich mit Grüntee und importierten Orangen. Die Kantonspolizei hat den Waisenhausplatz verbarrikadiert. Auf Facebook tobt bereits die Meinungsschlacht; beide wähnen sich im Recht.

Die Kantonspolizei sympathisiert mitm Mittelstand. Die Polizisten stammen Worb, Jegenstorf, Schüpfen und Lützelflüh. Sie haben alle eine seriöse Erstausbildung abgelegt. Man kann ihnen nichts verübeln. Sie verkörpern das Volk. Sie heissen Beat, Martin und Sandro. Sie sind verheiratet; ihre Frauen protestieren aufm Bundesplatz.

Die Städter sind entwurzelt; sie leugnen ihre Herkunft, ihre Familien. Sie sind nicht verheiratet. Sie verzögern ihre Bürgerlichkeit. Sie feiern das weltoffene und libertäre Leben. Sie entwerfen andere Lebensmodelle; es sind ewige Berufsjugendliche, grossgeworden in Bars und in überfüllten Aulas der staatlichen Universitäten; ohne Ausbildung.

Der Konflikt schwelte seit Jahren. Die letzten Volksabstimmungen haben den Graben aufgezeigt. Von Politologen lange verneint, ist er nun offenkundig. Eine Ahnung eines nahenden Bürgerkrieges schnellt über Bern. Schwirrend. Die Städter üben den Gleichschritt. Die Polizei formiert sich. Sie sind gerüstet, ausgebildet.

Der erste Stein ist geworfen. Die Polizei antwortet. Eine vermummte Einheit überrascht die Polizei via Zeughausgasse. Die städtische Jugend ist begeistert. Endlich das ersehnte Spektakel. Endlich Aufregung. Die ersten Bilder sind auf Instagram publiziert. Der Hashtag #RiotCH erklimmt Twitters Trendspalte. Watson und Blick installieren Tickers.

Die gesamte Schweiz wartet. Welche Partei verletzt zuerst? Wer tötet? Der Mittelstand verschanzt sich hinter der Polizei. Eine weitere vermummte Einheit stürmt via Bundesgasse durch. Eine Lücke der Blockade. Der Mittelstand verteidigt sich ehrbar. Doch er war nicht vorbereitet; Familien und Kinder. Die Frauen der Polizisten.

Das erste Kind wird totgetreten. Von Vermummten. Die Szene ist dokumentiert und sofort publiziert worden. Die Schweiz hat endlich einen richtigen Aufschrei. Das erste Todesopfer einer sozialen Unruhe. Ein historisches Ereignis. Die Polizisten sind erzürnt. Sie schonen nun nichts mehr; sie sind entfesselt.

Sie wüten und schiessen. Mit scharfer Munition. Das erste Mal seit über hundert Jahren. Das erste Todesopfer war die dreijährige Tochter eines Polizisten aus Lauperswil; ein stämmiger Bursche, Freizeitschwinger und Hobbyschütze, im Vereinsleben eingebunden, politisch aktiv und überhaupt frisch.

Doch der sinnlose Tod seiner Tochter überfordert ihn. Der Kommandant kann seine Einheit nicht mehr zügeln. Er genehmigt den Schiessbefehl. Bald zählen die sozialen Medien weitere Todesopfer. Der Mittelstand benachrichtigt seine Basis. Die vielfach gelagerten Gewehre werden endlich ausgepackt. Der wehrfähige Bürger macht endlich wieder Sinn.

Die erste Nachschublinie gelangt nach Bern. Die Männer und Frauen und Kinder des Mittelstands werden bewaffnet. Die Städter hingegen haben weder gedient noch jemals den Umgang mit harten Waffen erlernt. Sie können bloss Steine schmeissen und über den Pazifismus philosophieren.

Der Bundesrat harrt. Die UNESCO-Altstadt Berns verwandelt sich in einen urbanen Kriegsraum. Der Mittelstand jagt Städter, Jugendliche und Vermummte. Entschlossen und im Rausche. Wie viele Städter bereits krepierten, kann momentan nicht bewertet werden. Vermutlich verstarben zweihundert. Die Städter fliehen ins Lorraine-Quartier.

Die Polizei hat sich wieder gemässigt. Die Leichen werden sortiert. Der Bundesrat spricht zum Volk. Doch das ist alles vergebens. Die grosse und internationale Jugend Zürichs formiert sich bereits. Der Bundesrat erwägt eine Teilmobilmachung. Der Tag endet. In Zürich brennen die ersten Autos mit AG-, TG- und SG-Kennzeichen. In Basel jene mit JU und SO.

Der nächste Tag.

Der Verfemte

Meine Situation ist delikat. Ich bin öffentlich innerhalb der Firma verleumdet worden. Man identifiziert mich als Verschwörer. Ich habe gegenüber der Geschäftsleitung signalisiert, dass ich diese Darstellung nicht goutiere und mein Missfallen ausgedrückt. Ich habe mündlich um eine Gegendarstellung gebeten.

Ich konnte anerkennen, dass eine solche Gegendarstellung nicht durchsetzbar sei, da sie das Gesicht der Geschäftsleitung verletze. Heute habe ich das erste Mal seit dieser schwammigen Anschuldigung meine Persönlichkeit am überschicken Hauptsitz am Paradeplatz ausgestellt. Mit leichtem Alkohol.

Meine ehemaligen Kollegen wandten sich ab. Einige verhielten sich weiterhin loyal; die alte Prätorianer-Garde, welche das business erst aufbauten, welche den Markt zusammen mit mir eroberten. Die Neulinge, die Nachzügler distanzierten sich. Sie versicherten mir alle synchron und vermeintlich unabhängig, sie seien bloss Beobachter und wollen nicht werten.

Man kämpft immer alleine. Ich kann bloss den Zuspruch einer verschworenen Truppe erwarten. Immerhin konnte ich mich mit dem zweiten Mehrheitsaktionär versöhnen und gut verständigen; über Familie, Ferien und Kindergeburtstag und über die Zukunft der privaten Gesellschaft. Der dritte Minderheitsaktionär blickte bloss enttäuscht.

Der Hauptaktionär und der ultimative Gegenspieler war absent. Seine neue Rolle als Verwaltungsratspräsident fordert ihn wohl vollkommen und an anderen Fronten. Ich bin immerhin angemessen verabschiedet worden. Eine kleine, aber rührende Rede eines Bekannten. Das tröstete mich.

Auch der dritte Minderheitsaktionär würdigte meine Leistung. Immerhin. Das besänftigte mich. Ich habe mich daraufhin bedankt, den Mitarbeitenden, dem Arbeitgeber. Ich habe meine Rede improvisiert; wie so oft. Sie glückte einigermassen. Dennoch musste ich mich später rechtfertigen. Hinterbänkler wollten alles wissen.

“Ohne Anwalt kann ich nicht reden”, beschwichtigte ich jeweils. Das ist die Wahrheit. Ich kann nicht offen kommunizieren. Ich kann bloss auf den CEO verweisen. Er kann auf Anfrage richtigstellen; seinen Kontext vermitteln. Ich möchte meinen noch nicht kundgeben; noch ist es zu früh. Denn bald werde ich das Unternehmen konkurrieren.

Meine Konkurrenz ist hart. Es ist schwierig. Eventuell übernehme ich mich auch. Ich verschulde mich, ich werde scheitern und muss dann alles zurückzahlen; ohne Aussicht auf bedeutendes Mehreinkommen; ohne Mehrheitsanteile an einer rentablen Gesellschaft. Das verdüstert meine Weihnachtsstimmung.

Aber ich muss es riskieren. Ich könnte mir niemals verzeihen, es nicht zu tun. Ich will den Markt beherrschen, dominieren. Ich will den Markt zerstören. Ich will die Unternehmen befreien. Ich habe Ideale; ich habe eine Vision. Theoretisch kann man mich nicht aufhalten; das erzählt meine Biografie und Entschlossenheit.

Der volle Kalender

In big companies hat sich das Statussymbol des vollen Kalenders durchgesetzt. Umso mehr meetings, umso grösser der Respekt und die Anerkennung eines Mitarbeitenden. Ein voller Kalender verheisst Betriebsamkeit, verspricht Begehrtheit. Insbesondere das middle management ist angesteckt worden.

Alle vice presidents oder managing directors konkurrieren, wer beschäftigter, nachgefragter sei. Schliesslich sind das eben jene Positionen, die den grossen Wasserkopf einer ebensogrossen company bilden. Sie erwirtschaften keinen direkten Gewinn, sie verursachen bloss Kosten. Niemand weiss, was sie tun.

Also hängen sie in meetings herum. Sie simulieren Gewicht, obwohl sie keines haben. Die aktuelle Agile Transformation bedroht diese Arbeitsplätze. Der klassische Manager ist abgeschafft; ein Übrigbleibsel der bürokratisierten Neunziger. Den langsamen Tod kann man mit meetings verzögern, aber nicht verhindern.

Meine Aufgabe ist es, diese unproduktiven Bürokraten auf ihre neue Herausforderung, Aufgabe vorzubereiten. Ich versuche ihnen weiszumachen, dass sie ohne Bedeutung und Zweck sind und eine Fachkarriere anstreben sollen. Ich entzaubere ihre Managementlehren der business school der Neunziger.

Sie wehren sich manchmal. Sie vereinbaren meetings, sie erfinden boards und sonstige Gremien, die entscheiden, worüber längst gerichtet ist. Sie beschaffen sich Arbeit und Sinn. Irgendwie bedauere ich sie. Sie sind in den Neunziger grossgeworden, everything goes. Und nun werden sie überflüssig, selber wegrationalisiert.

Das ist hart. Auch diese Menschen haben ein soziales Umfeld. Auch sie müssen von ihrer Arbeit erzählen können. Sie müssen ihre Frauen selbstbewusst penetrieren können. Sie müssen prahlen können; in den Skiferien, in den Badeferien oder sonstwie. Sie dürsten nach Anerkennung wie wir alle, wie jedermann.

Mein Kalender war und ist nicht besser. Ich bin per Definition stets ausgebucht. Meine Ressource ist per Definition verknappt. Ich bin kostbar, ich verrechne meinen exakten Aufwand. Der Kunde muss stets abwägen, ob er mich wirklich konsultieren soll. Denn ich koste unmittelbar.

Im Trott

Ich experimentiere weiterhin. Das letzte Mal eine Kurzgeschichte über einen einsamen Wolf. Zuvor beim Besuch einer Prostituierten. Oder bettelnd in der grossen Stadt. Oder die Erzählung eines Fernsehmachers. Oder das Familiendrama. Oder das Ende von P. Oder der untröstliche Alltag, der dieser Geschichte hier ähnelt. Es geht weiter. Viel Vergnügen.

Ich zähle die Tage. Wie lange muss ich noch harren? Wann bin ich erlöst? Heute muss ich erneut trotten. Ich muss in eine ferne Stadt pendeln. Dort werde ich Excel-Tabellen schubsen. Ich warte seit Wochen auf meine Ferien. Endlich Ferien. Endlich Freizeit. Endlich kann ich mein Leben wieder mit Sinn aufwerten.

Der Zug ist überfüllt. Der frühere Zug hat sich verspätet, bis er komplett ausfiel. Die doppelte Menge zwängt sich in einen ohnehin zu knapp dimensionierten Zug. Alle leiden. Alle hüsteln. Sie infizieren mich. Ich werde erkranken. Ich werde pünktlich vor Ferienbeginn ins Bett geschlagen. Dort sieche ich dann.

Im Büro löse ich Kaffee. Ich zahle einen Franken. Meine Karte ist aufgeladen. Ich kann mir heute etwas spendieren. Ich muss nicht haushalten. Ich kann verschwenden. Ich besorge mir ein Gipfeli. Das kostet drei Franken. Vier Franken meines Einkommens sind verschleudert. Ich setze mich auf den Bürostuhl.

Ich justiere den Bürostuhl für meine Körpergrösse. Desk-Sharing entwurzelt den Menschen im Büro. Jeden Tag kämpfe ich um meinen Platz. Nichts ist sicher, nichts ist gewohnt. Ich kann meinen Arbeitsplatz nicht mit meinen Habseligkeiten schmücken. Kein Ferienfoto erinnert mich an eine unbeschwerte Zeit.

Ich verkable meinen Laptop. Jeden Tag dasselbe. Heute fehlt aber das Stromkabel. Ich besorge mir eines an der nächsten Versorgungsstation. Ich rüste mich mit frischen Schreibmaterialien. Ich bin bereit, ich kann arbeiten. Ich starte mein Outlook. Der Server sortiert meine Emails. Die wichtigen werden hervorgehoben, automatisch.

Ich habe keinen neuen Auftrag erhalten. Das System vermeldet eine offene Pendenz. Ich muss meine Formel vollenden. Diese Formel ermittelt die fehlerhaften Verkäufe der Dienststellen vom ganzen Land. Diese fehlerhaften Verkäufe konnten aufgrund Synchronisationsproblemen nicht im zentralen Server verarbeitet werden.

Diese fehlerhaften Verkäufe werden folglich nicht verbucht. Sie unterfliegen unseren betriebswirtschaftlichen Radar. Die Revision wird solche Missstände aufdecken und das interne Kontrollsystem nochmals verschärfen. Das werden alle beklagen, das wird die Arbeit aller verlangsamen. Und meinen Chef erzürnen.

Ich verstehe bis heute nicht diese Synchronisationsprobleme. Als asynchrone Kommunikation umschreiben die Techniker die Situation. Mich interessiert das nicht sonderlich. Ich muss schliesslich bloss meine Formel fertigstellen. Die einzelnen Dienststellen liefern mir ihr tatsächlichen Verkäufe.

Diese Verkäufe aggregiere ich jeweils täglich. Meine Formel vergleicht die Tagessummen der Dienststellen mit dem zentralen Server. Falls die Summen abweichen, rechne ich jeden Verkauf nach. Ich tüftle noch, wie mein Excel Abweichungen auf einen bestimmten Verkauf zurückschlüsseln kann. Ich konsultiere dafür deutschsprachige Office-Foren.

Ich bin zuversichtlich, dass ich in einer Woche die Aufgabe abschliessen kann. Doch mein Kopf raucht. Ich muss rauchen. Ich schlendere zum Raucherbereich. Einen weiteren Kaffee gönne ich mir. Kaffee und Zigaretten. Auf meinen Natel wische ich durch die neuesten Nachrichten. Das Mädchen des Tages möchte man absetzen.

Die gestrige Unterhaltungssendung hat einen neuen Sieger gekürt. Mein Liebling, ich bin zufrieden. Die scheidenden Tagesmädchen bedauere ich kurz. Danach ist die Geschichte vergessen. Ich rauche eine weitere Zigarette. Ich scrolle durch meine Youtube-Abos. Ein humoristisches Video über die Unterschiede zwischen Albaner und Schweizer. Prächtig.

Oh, ich muss arbeiten. Ich darf nicht zu arbeiten vergessen. Ich bin ja pflichtbewusst, ich bin loyal. Aber ich zweifle, ob ich das Richtige tue. Und ob ich das Richtige auch überhaupt richtig tue. Überhaupt kann ich meine Tätigkeit nicht würdigen. Wozu bin ich angestellt worden? Welchen Mehrwert liefere ich? Wieso stopfe ich bloss Symptome?

Ich möchte meinen Job kündigen. Ich fühle mich vergeudet. Ich fühle mein Potenzial verkannt. Ich kann hier nicht wirken. Ich kann nichts bewegen. Ich trotte bloss. Ich fühle mich alternativlos. Die Arbeit dominiert mein Leben. Doch meine Arbeit beseelt mich nicht. Vielmehr beelendet sie mich. Sie ruiniert mich.

Doch ich bin gefangen. Ich erwarte ein regelmässiges Einkommen. Ich muss meine Miete bezahlen. Meine Grundversicherung und meine bescheidene Zusatzversicherung; freie Spitalwahl. Mein Internetz. Meine Spielzeuge. Diese Kosten sind fixiert. Ich kann sie nicht wegdiskutieren. Ich will auch regelmässig verreisen.

Ich will das mir fremde Land verlassen. Ich will entdecken, ich will nicht an meinen Alltag mich ermahnen müssen. Ich will ausbrechen. Das muss ich alles finanzieren können. Ich bin also auf einen Beruf angewiesen. Ich bin abhängig, lohnabhängig. Mich tröstet, dass wir alle abhängig und gefangen sind. Ich bin nicht alleine.

Bald Mittagessen. Die grosse soziale Bühne. Wer isst mit wem? Alle beobachten dich. Der Vorhang fällt. Wer isst was? Wer entscheidet sich fürs Budgetmenü? Wer fürs vegetarische? Wer vergnügt sich mit dem frisch zubereiteten Tagesmenü? Wer sitzt wo, wem wie gegenüber? Worüber spricht man? Wer war wo am Wochenende?

Ich bange. Ich bin nicht verabredet. Ich habe diese Chance verpatzt. Ich bin seit Jahren nicht mehr im Gruppenchat eingeladen. Dort diskutiert man die Mittagspläne. Man schnuppert im vorab publizierten Menü. Man bereitet sich vor. Ich bin ausgestossen, ich habe mich selber verabschiedet. Seitdem irre ich mittags.

Meistens flüchte ich in die nahe Stadt. Dort taumle ich durch die Gassen. Ich verpflege mich hastig und ungesund. Ich möchte bloss den Firmenkomplex verlassen. Ich möchte ungefilterte Luft atmen. Ich möchte den Staub der kleinen Strassen schmecken. Ich möchte meine Arbeit vergessen. Ich möchte fortlaufen, ja.

Auch dort bin ich alleine. Ich habe vor zwei Jahren bemerkt, dass ich keine Freunde habe. Das hat mich nicht überrascht. Eine späte, aber richtige Erkenntnis. Ich kann auch keine sozialen Bekanntschaften intensivieren. Ich pendle täglich vier Stunden. Abends kehre ich heim, erhitze eine tiefgefrorene Pizza oder rufe einen Türken.

Ich masturbiere eine halbe Stunde vorm Badezimmerspiegel. Danach esse ich. Das Dosenbier spült meinen allgemeinen und speziellen Ekel herunter. Lustlos zappe ich durchs Abendprogramm. Es ist bereits neun Uhr spät. Noch eine Stunde kämpfe ich gegen meine Müdigkeit. Danach verkrieche ich mich im Bett.

Ich habe nie behauptet, ich sei ein Mann grosser Leidenschaften. Ich interessiere mich für nichts und niemanden. Das Reisen überdeckt bloss meine Eigenschaftslosigkeit. Ich reise, damit ich Büro etwas berichten kann. Ich muss reisen. Denn ich möchte vermeiden, dass meine Arbeitskollegen mich durchschauen. Ich spiele mit.

Meine Sexualität ist auf die Masturbation geschrumpft. Gelegentlich stöbere ich sexuelle Kontaktanzeigen. Diese können mich kurzzeitig erregen. Danach lege ich sie wieder hin, ich lösche meinen Browser-Verlauf. Ich sammle Bücher der Weltliteratur. Doch ich bin weder belesen noch sonstwie bewandert. Ich sammle bloss.

Damit simuliere ich Belesenheit, falls ein Mädchen mich besuche. Ich versuche manchmal, den letzten Besuch zu vergegenwärtigen. War es Valerie oder Chantal? Worüber haben wir uns unterhalten? Durfte ich ihre Scheide berühren? Durfte ich Lust empfinden? Durfte ich sie penetrieren? Ich weiss es nicht mehr.

Bald ist zehn Uhr, mein Wecker ist programmiert. Morgen wiederholt sich mein Tag. Ich erlebe keinen grossen Verblendungszusammenhang. Mein Leben ist weder spektakulär noch aussergewöhnlich. Ich sorge mich nicht. Nichts befeuert mich, nichts motiviert mich. Ich verplempere gelegentlich tausend Franken für Spielzeuge; Männersachen.

Ich verfolge stets eine “ich-auch”-Strategie. Wer will mir das verübeln? Wieso muss ich meinen Individualismus überhöhen? Wieso muss ich mich präsentieren, was nicht bin? Ich meide auch die sozialen Netzwerke. Mit meiner Tarnidentität bin ich zwar registriert, doch ich folge bloss den jung-reizenden Mädchen.

Ich zähle bloss noch die Jahren. In zwanzig Jahren bin ich pensioniert. Ich begrüsse die grosse Leere. Ich kann dann mein Leben gleichmässig unwürdig fortfahren. Ich muss nicht mehr pendeln und arbeiten. Ich kann bloss noch davoneilen, durch die Welt hasten. Ich kann mich und alles vergessen. Ewige Ferienzeit.

Meine Ferien. Auch die sind repetitiv. Sie versüssen mein Leben. Sie befriedigen aber nicht. Sie beruhigen mich temporär. Die ewige Ferienzeit würde mich wohl deprimieren. Denn ich könnte mich nicht mehr freuen, ich könnte mich nicht mehr beschwichtigen. Ich würde auflaufen, ich würde wohl zusammenbrechen. Mein Leben verkürzen.

Dennoch schätze ich meine Ferien. Ich organisiere sie immer mit demselben Muster. Eine Woche verstecke ich mich daheim. Ich ordne die Dinge, ich prüfe meine Versicherungen, ich regle meinen privaten Bürokram. Ich veradministriere mich selber. Meine Sozialversicherungsnummer in der einen, meine Bankzugangsdaten in der anderen Hand.

Um zwölf gastiere ich in meiner Stammbeiz. Dort bestelle ich eine Maschine Weizen und Geschnetzeltes Zürcher Art. Ich blättere durch die Lokalzeitung. Ich könnte jede zweite Person kennen, doch ich habe mich längst entfremdet. Man grüsst mich zwar, doch Gespräche können nicht entstehen.

Die zweite Woche fliege ich weg. Möglichst exotisch. Iran möchte ich in diesem Frühling besichtigen. Ich habe in Magazine gelesen, dass das Land noch unbefleckt sei. Noch kein Massentourismus verfälscht den wahren Eindruck. Gewiss lügen die Magazine. Zwei Arbeitskollegen schwärmen bereits vom Iran. Bald kann ich auch mitreden.

Doch vorerst darf ich arbeiten. Meine Formel ist fehlerhaft. Sie funktioniert nicht. Ich habe die Rundungsdifferenzen übersehen. Das zentrale System rundet mit sechs Nachkommastellen, die von den Dienststellen bereitgestellten Daten bloss mit drei. Für Normalsterbliche müssen drei Nachkommastellen ausreichen.

Ich muss die Rundungsregeln der dezentralen Dienststellen nachbauen. Damit kann ich die zentralen mit derselben Regeln runden. Damit werden sie vergleichbar. Meine Formel darf immer mehr Geschäftslogik abbilden. Sie wächst und wächst. Ich selber durchblicke kaum noch die Logiken. Excel verweigert ab 256 Verschachtelungen die Berechnung.  

Ich muss meine Formel aufteilen. Ich lagere gewisse Vorberechnungen aus. Damit ist die Formel auch wartbarer. Doch für wen? Ich habe keinen Ersatz, niemanden, der mich bald ablösen könnte. Ich harre quasi auf vergessenem Posten. Mein Chef ahnt, was ich tue. Ich kann meine Tätigkeit auch nicht meiner Mutter erklären. Ich mache Excel-Formeln.

Ohnehin ist meine Mutter verstorben. Keine Familie deckt oder schützt mich. Bald ist Weihnachten. Das einsamste Wochenende hierzulande. Die Bars sind leer, sie füllen sich erst gegen Mitternacht mit den unzähligen Heimkehrer. Bis dahin bin ich längst allem überdrüssig. Ich verpasse den Anschluss. Ich war ja auch nie fort.

Das ist nicht meine Zeit, nicht meine Generation, nicht mein Jahrgang. Das ist nicht mein Leben. Ich bin verpflanzt worden. Ich will nicht wachsen. Ich will nichts. Ich begehre nichts. Aber ich muss fristen. Ich bin ungewollt, wieso ist meine Schwangerschaft nicht abgebrochen worden? Wieso musste man mich herauspressen?

Ich huste im Zug, am nächsten Halt muss ich umsteigen. Die SBB schätzt dafür drei Minuten. Das ist machbar. Mein Zug hält am Perron 7A, der Anschluss 4B. Drei Minuten sind grosszügig bemessen. Ich kann 4B in einer erreichen. Ich kann mir das zutrauen. Als Dauerpendler bin ich geübt. Ich danke der SBB für die Regelmässigkeit.

Die SBB enttäuscht einen nie. Wenn der erste Schnee in den Voralpen fällt, können sich die ersten Züge verzögern. So wie gestern. Nach dreissig Minuten Verspätung löscht die SBB einen Zug; er würde bloss das Netz destabilisieren; eine Dissonanz der Fahrplanmelodie. Das verzeihe ich. Die SBB hat mich gestern mit einem Kaffeegutschein entschädigt.

Soll ich mich anonym bedanken? Soll ich auf Facebook kommentieren? Ich bin bereits angeschwipst; ich leere das zweite Dosenbier. Heute möchte ich mich nicht verpflegen. Jeden zweiten Tag ernähre ich mich bloss flüssig. Ansonsten verdickt mein Körper. Dann könnte ich mich nicht mehr im Badezimmerspiegel masturbierend anstarren.

Schliesslich habe ich mich nicht überwunden. Ich habe nichts auf Facebook publiziert. Ich habe meine Liebe zur SBB nicht geäussert. Die SBB hat einen heimlichen Anhänger. Das muss die SBB nicht unbedingt wissen. Ich goutiere die jährliche Preiserhöhung wie Anfang Dezember beim Fahrplanwechsel. Überhaupt der Fahrplanwechsel; magisch.

Die SBB eröffnet den Gotthard-Basistunnel. Ein Meisterwerk. Kann ich darauf stolz sein? Ich habe Anfang Neunziger meine Zustimmung abgelegt; brieflich. Ein Milliardenprojekt. Damals noch optimistisch geschätzt. Ich habe die Kostenerhöhung Ende Neunziger ebenfalls bewilligt. Ich bin das Volk. Ich gehöre dazu. Meine Stimme zählt.

Die vierteljährlichen Abstimmungen vergewissern mir, dass ich noch lebe. Ich kann mich periodisch äussern. Ich werde befragt. Denn ansonsten interessiert sich niemand für mich. Das Steueramt erkundigt sich zwar jährlich, dass ich Einkommensänderungen gerne mitteilen solle. Aber abgesehen davon schweigen die Ämter. Stille.

Die letzte Abstimmung habe ich verschlafen. Ich wollte nicht brieflich wählen. Ich wollte die Zeremonie zelebrieren. Doch ich habe verpennt. Der Alltag hat mich entkräftet. Insgeheim beeinflusst mich nicht der Akt der Wahl, auch nicht das Ergebnis am späten Sonntagnachmittag. Das Gefühl des Gebrauchtwerdens genügt.

Ich werde gebraucht. Ich stifte Sinn. Meine Arbeit mag mich zwar verzweifeln, aber der Staat will meine Meinung, immerhin der Staat. Das ist ein grosser Trost eines kleinen Mannes. Doch zu mehr könnte man mich auch nicht gebrauchen; mehr Bürde könnte man mir auch nicht überantworten. Ich bin und bleibe der kleine Mann.

Bald Weihnachtsferien

Mein gekündigtes Arbeitsverhältnis endet per 23. Dezember. Bis dahin darf ich noch arbeiten. Alles muss fertig und erledigt werden. Ich werde nicht geschont oder freigestellt. Ich darf Kurse halten, ich darf Rechnungen schreiben. Mein bald ehemaliger Arbeitgeber braucht das Geld, meinen Umsatz.

Ich sehne mich bereits heute nach den Weihnachtsferien. Es ist zwar bloss eine Woche, weil Weihnachten das Wochenende besetzt. Ich kann mich nicht mehr an meine letzten Ferien erinnern. Vermutlich im August in Como. Das ist zu lange her. Seitdem hatte ich einige Freitage, aber keine durchgehende Woche.

Auch sozial bin ich gefordert. Ich treffe mich mit ehemaligen Teams, Arbeitskollegen. Ebenfalls veranstalte ich meinen eigenen Abschied. Den plane ich für den 22. Dezember. Ein kleines Fest. Ich habe einige hundert Franken budgetiert. Die dürfen ausreichen für Bier und Fleisch. Ich teile mir die Kosten mit zwei Kollegen, die ebenfalls der Firma austreten.

Auch müsste ich mich um meine eigene Familie kümmern. Doch ich möchte manchmal auch bloss daheim sein. Ich möchte nichts unternehmen müssen. Ich möchte einfach entspannen und mich heruntertakten. Mich beruhigen. Denn im nächsten Jahr werde ich aufdrehen müssen. Ich werde mich nochmals beschleunigen dürfen. Freuen wir uns.

Die Vorweihnachtszeit ist wiederkehrend hektisch. Da meine sozialen Verpflichtungen ohnehin minimalisiert sind, kann ich meinen Aufwand einigermassen drosseln. Ich muss maximal zehn Geschenke organisieren. Ich muss keinen Weihnachtsbraten vorbereiten. Ich muss keine Kinder aufs Christkind vertrösten. Immerhin.

Für Familien ist diese Zeit wohl besonders herausfordernd. Ich kann es mir zumindest vorstellen. Die häusliche Gewalt ist zunehmend, die Selbstmordrate hoch. Die Liebe bangt. Alles kann zusammenbrechen. Der 24. Dezember soll alles und alle wieder versöhnen und zusammenbringen, was übers Jahr sich entfremdete.

Ich habe keinen Streit offen. Ich habe keinen Konflikt zu bewältigen. Ich muss mich nicht aussöhnen oder aussprechen. Meine Situation gefällt mir derzeit. Ich beklage mich bloss über Stress. Ich kann keine Stressbewältigung entwickeln. Ich muss einfach noch zwei Wochen überstehen. Und dann habe ich es geschafft.

Bin ich ein Buchhalter?

Momentan schultere ich die finanziellen Aktivitäten und Überlegungen meiner Selbständigkeit. Doch ich vermisse einen Treuhänder. Ich rätsele, wie ich das Geschäftsjahr 2017 abschliessen soll. Wie ich gewisse Transaktionen verbuchen soll. Ich kann meine alten KV-Bücher hervorkramen, damit ich einen Gewinn in den Bücher journalisieren kann.

Aber ja, das ist nicht mehr mein Fachgebiet. Die Ausbildung ist angejährt. Ich müsste mich rasch wieder einlesen. Doch diese Zeit ist nicht effektiv investiert. Ich könnte mit anderen Tätigkeiten Umsatz schaufeln. Mit Buchhaltung jedoch nicht. Das bildet bloss einen Wasserkopf, den man immer variabilisieren müsste.

Das Problem ist noch nicht akut, denn derzeit sind keine aktiven Buchungen zu tätigen. Ich übe in einer Sandbox fürs nächste Geschäftsjahr. Das aktuelle ist fiktiv. Ich habe das ERP bereits einigermassen konfiguriert. Ich habe viele Vorlagen übernommen. Den Kontenplan habe ich bloss gestutzt, die MWSt-Abrechnung vorkonfiguriert.

Ich habe auch bereits eine Lohnabrechnung vorbereitet. Ich habe die Sätze definiert. Jedoch bloss fürs 2016, für 2017 sind die Optionen noch nicht freigeschaltet. Ich habe das gesamte ERP in die Cloud ausgelagert. Ich möchte alle Finanzprozesse digitalisieren; jeder Beleg mit einer App scannen und dann dunkeln verarbeiten.

Ich bin derzeit der Buchhalter der Firma. Ich prüfe die Finanzplanung. Ich aktualisiere neueste Erkenntnisse, integriere Offerten. Ich kalkuliere. Die Planerfolgsrechnung, konservativ geschätzt, beruhigt mich. Meine Schulden werde ich tilgen können. Das erste Geschäftsjahr ist gesichert.

Doch früher oder später werde ich einen echten Buchhalter engagieren müssen. Ich werde ihn im ERP berechtigen. Er wird mein Vertrauen gewinnen. Ich werde ihn entschädigen. Ich freue mich. Das wird mich entlasten. Ich kann weiterhin mitreden. Denn ich besitze das gesamte Grundwissen. Immerhin.

Ich im Krankenhaus

Ich fürchte mich vor der Medizin. Ich kann mich nicht für die Biologie interessieren. Die Psychologie hingegen besorgt mich nicht. Aber ich ekle mich vor Spritzen, Krankenhäuser und Ärzten. Mich kann man kaum verarzten. Ich verschiebe jede Blutentnahme, ich vergesse jeden Arzttermin. Ich ignoriere jede mögliche Erkrankung.

Meine Phobie grenzt am Pathologischen. Wieso empfinde ich Medizinisches als unangenehm? Wieso zittere ich bei einer Blutentnahme? Wieso schwitze ich bei einer Arztvisite? Wieso kann ich mich nicht für meine Gesundheit begeistern? Wieso kann ich nicht über Herzbeschwerden diskutieren?

Bin ich verletzt oder traumatisiert worden? Ich kann mich nicht erinnern. Was verursacht meine Medizinphobie? Ich kann diese Angst nicht rationalisieren. Diese Angst erklärt, wieso ich beispielsweise jeden Zahnarzt mied, ich keinen Hausarzt besitze oder nichts über meinen Gesundheitszustand aussagen kann.

Ich bin sogar schlechter geimpft als eine Hauskatze. Mein Impfausweis ist veraltet. Die letzten Einträge stammen aus den Neunziger. Das letzte Mal immunisierte man mich an meinem ersten Schultag der Kanti. Das kann erschrecken, ich bin quasi unterversorgt. Doch beklagt darüber habe ich mich nie.

Grundsätzlich fasziniert mich das Spital als Unternehmen. Darin sind unterschiedliche Disziplinen kombiniert. Ein Spital benötigt Ärzte, Pflegepersonal, einen fundierten technischen Dienst, eine Administration. Als Unternehmensberater beäuge ich Krankenhäuser kritisch; die Automatisierung und Digitalisierung sind gering.

Ich könnte mir sogar vorstellen, ein Spital zu optimieren. Ein Kanban-System für die Patientenaufnahme, mit unterschiedlichsten Serviceklassen anhand Lebensbedrohung; transparent mit Kanban-Karten am Haupteingang platziert. Mit einer geschätzten Wartezeit. Mit Standardprozeduren, die von flexiblen mechanical turks erledigt werden können.

Und so weiter. Ich könnte problemlos dort wuseln. Ich könnte sogar Blut wegwischen, solange es nicht mein eigenes ist. Ich habe bekanntlich in der Pflege gewirkt; dort verstarben Menschen. Dort durfte ich Unrat, Erbrochenes wegputzen; ich durfte das Siechen begleiten. Das hatte mich nicht erschaudert.

Doch sobald es persönlich wird, bin ich blockiert. Ich kann nicht mehr funktionieren. Ich kann problemlos retten, helfen, Wunden desinfizieren und verbinden. Aber ich könnte mir selber nicht helfen. Eigenartig, nicht wahr? Aber wiederum habe ich mich gebessert. Ich besuche Ärzte, ich lasse mich untersuchen.

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