Month April 2016

Wer erinnert sich noch ans Millennium?

everything goes – so prahlten wir Ende Neunziger. Man verabschiedete die Weltgeschichte, man feierte das Internetz und eine komplett neue Industrie. Man beschwor die Automatisierung aller Bereiche. Man wähnte sich liberal. Man fühlte sich sicher. Man hatte gewonnen. Everything goes. Wir waren alle trunken.

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Was war geschehen? Sechszehn Jahre später? Sechszehn Jahre älter? Haben wir einen Kater?

Die alles durchdringende Kälte

Ich sehe zwei Möglichkeiten, wie sich unsere Welt weiterentwickeln könne. Die eine ist die eines natürlichen Kältetodes. Die andere ist die einer klassischen Utopie gemäss Star Trek. Heute befasst ich mich mit dem Kältetod.

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In Adornos Dialektik der Aufklärung wiederholt sich der Begriff der bürgerlichen Kälte. Darin befürchtet Adorno eine lediglich funktionierende Warengesellschaft. Die Kulturindustrie Kaliforniens hat Adorno gewiss beeindruckt während seines Exils. Doch seitdem hat sich alles verändert. Aus heutiger Perspektive können wir bloss schmunzeln, dass jemand die Zerstreuung und die Kälte menschlicher Beziehung bemängelte. Wir haben uns längst daran gewöhnt und sind viel weiter.

1) Die künstliche Reproduktion

Die künstliche Reproduktion wird demnächst institutionalisiert. Die künstliche Reproduktion erlaubt eine selektive Zucht. Wir produzieren on demand und bedürfnisgerecht. Die Notwendigkeit, dass zwei Menschen sich paaren und damit Widerstand leisten, wird obsolet. Und wenn es keiner Notwendigkeit bedarf, wieso muss man also sich zusammentun? Wieso muss man sich zuweilen mässigen und arrangieren? Die künstliche Reproduktion wird die Art und Weise, wie Menschen zusammenleben, radikal verändern. Statt Fleiss, Ausdauer bishin Beharrlichkeit motivieren einen Vergnügen, Zerstreuung und Selbstverwirklichung.

2) Die Eigenverantwortung

Heute schimpft man, wer keinen Erfolg habe, sei selbstverschuldet. Demnächst werden alle Verantwortungen einen übertragen. Man wird verantwortlich gemacht, wenn man zu früh stirbt, zu spät stirbt, wenn man erkrankt, wenn man einen Job verliert, wenn man depressiv wird. Alles ist pathologisch und alles hat eine Ursache. Man ist default schuldig und hat seine Unschuld zu beweisen. Und damit radikalisiert sich das Verhalten der Menschen untereinander. Man rutscht wie in einen Reptilienmodus. Entweder stellt man sich tot, fügt sich einem “Schicksal”, man flüchtet oder man kämpft in einer Lose-Lose-Eskalationstufe. Jeder gegen jeden. Man fällt auf sich alleine zurück, man misstraut jedem.

3) Die Virtualität

Die moderne Maschine hat die klassische Kulturindustrie längst überholt. Bereits heute können wir uns in komplett austarierten virtuellen Welten vergnügen und zerstreuen. Wir müssen uns nicht mehr in der Realität binden und verpflichten. Wir können gezielt uns versenken. Demnächst können wir die Mensch-Maschine-Schnittstelle um weitere Geräte erweitern; Tastaturen und ähnliche Kontrollfunktionen werden überkommen. Wir verknüpfen unser Gehirn mit der Maschine und schaffen beliebige Welten. Diese Welten beherrschen wir. Wir können sie kontrollieren. Die Ungewissheit der realen Welt ist vergessen. Wir können uns entscheiden, ob wir unseren Lebensabend im Tessin oder als Millionär in einer weitaus gediegeneren Matrix geniessen wollen. Und Beziehungen werden funktional gesteuert, den momentanen Bedürfnissen entsprechend.

4) Die Ernährung

Das gemeinsame Mahl hat was Revolutionäres. Das letzte Abendmahl Jesu hat eine grosse Weltreligion begründet und überliefert die Gastfreundschaft eines gesamten Kulturkreises. Sich zusammentun, gemeinsam das wirklich Wichtigste zu vollenden, festigt menschliche Beziehungen. Dieser Event ist magisch. Wie viele Ideen, wie viele Kriege, wie viele Revolutionen, wie viele Entscheidungen wurden während einer gemeinsamen Mahlzeit getroffen? Wie viele Beziehungen gestärkt? Aber bereits heute haben wir eine stark erkaltete und isolierte Esskultur. Was in Adornos Kalifornien bloss eine Andeutung war, hat sich heute fast überall ausgebreitet. Und demnächst ersetzt der functional food das “echte” Essen. Und damit verlieren wir die Notwendigkeit, fürs gemeinsame Mahl uns zusammenzurotten. Und umso mehr wir uns auseinanderleben, umso kälter werden wir. Das Essen können wir vermutlich noch am längsten bewahren, wohingegen die Reproduktion, die Eigenverantwortung und die Virtualität uns längst besiegen werden.

Hungertod oder Heldentod?

Aus zeitlosem Anlass ein Zitat kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Spenglers Untergang konstruiert einen Gegensatz zwischen Hungertod und Heldentod, worin er folgendes erkennt:

Die Politik opfert Menschen für ein Ziel; sie fallen für eine Idee; die Wirtschaft lässt sie nur verderben.

Wen die Armut plagt, der liest einen solchen Satz anders. Wer materiell einigermassen saniert ist, muss weder einen Hunger- noch einen Heldentod fürchten. Uns bedrohen keine Kriege. Wir kämpfen nicht für Ideen. Wir haben auch keine.